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Couch-Perle: Memories of Murder

Ein Beitrag von Simon Stockinger

Bong Joon-hos zweiter Langfilm aus dem Jahr 2003 ist ein Glanzstück filmischer Zeit- und Gesellschaftsreflexion durch die Genre-Linse einer Kriminalgeschichte. Die Streaming-Plattform MUBI bringt „Memories of Murder“ nun pünktlich zum 20. Geburtstag auf die Wohnzimmerbildschirme.

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Filmstill zu Memories of Murder (2003)
Memories of Murder (2003) von Bong Joon-ho

Bong Joon-ho ist zweifellos einer der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart. Spätestens seit Parasite (2019) – Gewinner der Goldenen Palme von Cannes 2019 und „bester Film“ bei der Oscarverleihung 2020 – ist er einer Weltöffentlichkeit bekannt. Joon-hos Filme stehen beispielhaft für ein Genre-befragendes und -sprengendes Kino, das konventionelle Erzählstrukturen herausfordert, heftige Tempowechsel hinlegt und mit schwarzhumorigen Twists & Turns arbeitet – aber trotz alldem stets als organisches Ganzes funktioniert. Dies verbindet ihn etwa mit seinem Kollegen Park Chan-wook (Oldboy). Was Joon-ho aber besonders auszeichnet, ist ein völliges Fehlen von Zynismus in der Figurenzeichnung; sein Blick ist ein verständnisvoll-fragender, der weder zum Spott, noch zur Glorifizierung der Handelnden neigt und sie außerdem nicht an die unberechenbaren Spannungsplots verliert.

Das gelingt ihm bereits in früheren Filmen, etwa bei der irren Verschaltung von Familiendrama, Polit-Satire und Monsterfilm in The Host (2006) oder auch mit Mother (2009), einer verstörenden Mutter-Sohn-Geschichte mit Thriller- und Komödienelementen. Klassenfragen spielen bei Joon-ho beinahe immer eine wesentliche Rolle, aber stets auf eine Weise, die den bzw. die Einzelne*n ernst nimmt und nicht zum Träger einer politischen Message reduziert: Am eindrucksvollsten gelingt das freilich in Parasite, wo die südkoreanischen Klassenverhältnisse durch ein Prisma von Familiendrama, Schelmenstück, Komödie und Thriller aufbereitet und ironisiert werden. Ähnliches gilt für den Netflix-Hit Okja (2017) der als rührendes und überdrehtes Abenteuerspektakel loslegt, dann allerdings seine Themen – Tierleid, Fleischindustrie und euphemistischer Corporate-Jargon – mit schmerzhafter Konsequenz einem bitterbösen Höhepunkt zutreibt. Joon-ho realisiert seit Jahren, was sonst so spürbar fehlt: Unterhaltungsfilme, die Schablonen sprengen und sich in jeder Hinsicht – erzählerisch wie ästhetisch-formal – auf Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten und Grenzgänge einlassen.

Memories of Murder nimmt all das vorweg, steht dann aber doch ganz für sich allein. Quentin Tarantino, der mutmaßlich größte Filmfan unter den Filmschaffenden, zählt das Crime-Drama immerhin zu den besten 20 Filmen seit 1992. Und darin kann ihm weiterhin nur zugestimmt werden. Memories of Murder gehört – gemeinsam etwa mit La Isla Minima (2016) und The Nile Hilton Incident (2017) – zu der raren Gattung von Filmen, denen es gelingt, durch eine Kriminalhandlung eine spezifische historische Situation zum Sprechen zu bringen. In diesem Fall: das rurale Südkorea im Jahr 1986, kurz vor Ende der Militärdiktatur und am krisenhaften Beginn einer rasend schnellen Entwicklung zu einem industrialisierten Zentrum des globalen Kapitalismus (Stichwort: Tigerstaat). Die Handlung beruht auf den wahren Begebenheiten einer Vergewaltigungs- und Mordserie an Frauen, die sich in der Provinz Gyeonggi, nahe an Seoul, zugetragen hat.

Memories of Murder startet an einem sonnigen Tag; der Polizist Park Doo-man (Joon-hos Stammstar: Song Kang-ho) wird, von einer Kinderschar verfolgt, auf einer wackeligen Kutsche zum Fundort einer Leiche gebracht. Die Ermordete liegt in einem gemauerten Bewässerungsgraben und Park leuchtet mit einer Glasscherbe in die Dunkelheit, während ihn ein frecher Bub nachäfft. Das nostalgische Bild von Einfachheit wird dabei jäh gebrochen und die Infantilität des Ermittlers, die sich durch den Film ziehen wird, wird hier bereits ironisch in dem Kind gespiegelt und vorweggenommen. Denn Park ist auf eine kindische Weise davon überzeugt, dass er qua seines Blickes intuitiv erkennen kann, wer schuldig bzw. unschuldig ist. Sein Kollege Cho (Kim Roi-ha) setzt indessen auf rohe Gewalt. Zu ihnen stößt im Verlauf der Handlung ein junger Ermittler aus Seoul, Seo (Kim Sang-kyung), der auf rationale Analyse und Wissenschaft setzt.

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Joon-hos Regie-Kollege Guillermo del Toro (Pans Labyrinth) weist in einem Interview zurecht darauf hin, dass die drei Polizisten verschiedene Aspekte von autoritärer Männlichkeit repräsentieren. Sie werden von dem Mörder übervorteilt, weil sie nicht verstehen können, dass dieser vielmehr einen verleugneten Aspekt ihrer selbst darstellt, als eine radikale Abweichung von eben dieser patriarchalen Normalität. Joon-ho arbeitet diese Normalität formal brillant heraus, indem er die Ermittler stets so in die matte Umgebung einfügt, dass sie sich farblich nur wenig vom Hintergrund des jeweiligen Settings ablösen; sie erscheinen durchwegs eher als Teil einer Situation denn als autonome Akteure.

Dadurch entsteht eine Atmosphäre von Ausweglosigkeit und Distanz, die wunderbar mit der reduzierten Farbdramaturgie des Films harmoniert. Andererseits sorgt gerade diese Farbdramaturgie für jenes Nostalgiegefühl, das man von vergilbten Fotos kennt. Joon-ho misstraut diesem Zug zu einem „Gute-Alte-Zeit“-Feeling und erkennt zugleich an, dass die filmische Aufbereitung des Themas ein solches beinahe notwendig mit sich bringt. Die Entscheidung, die Figuren mit den matten Tableaus verschmelzen zu lassen, anstatt ihnen zu erlauben, sich heroisch hervorzutun, macht das nostalgische Wohlgefühl brüchig, ohne es ganz zu verleugnen. Diesbezüglich erweist sich Joon-ho als deutlich reflektierterer Kino-Denker als der US-amerikanische Serienmörder-Spezialist David Fincher, mit dessen Werk Memories of Murder gerne verglichen wird.

Zuletzt scheitert auch die „progressive“ Männlichkeit des wissenschaftsorientierten Seo – und der Frust darüber lässt ihn auf jene Gewalt zurückfallen, die er anfangs noch abgelehnt hat. Der Einbezug der Polizistin Kwon (Go Seo-hee), die im Gegensatz zu ihren beiden prügelnden Kollegen tatsächlich eine wesentliche Spur entdeckt, hätte vielleicht zur Aufklärung des Falls beitragen können, sie wird allerdings vom plumpen Sexismus ihres Kollegiums daran gehindert. Joon-ho zeigt dies mit warmer Ironie, aber ohne ein Empowerment-Pathos, das die gezeigten Verhältnisse beweglicher erscheinen lässt.

Die reale Mordserie blieb übrigens bis 2019 unaufgeklärt. Als der wahre Täter qua eines DNA-Tests herausgefunden werden konnte, war Joon-ho gerade in den USA, um Parasite bei verschiedenen Filmfestivals zu repräsentieren. Es handelt sich bei dem Täter um einen Mann, der bereits seit 1994 in Haft sitzt, aufgrund des Mordes an seiner Schwägerin. Joon-ho, der jahrelang mit dem Stoff beschäftigt war und an den Originalschauplätzen drehte, zeigte sich ergriffen von der Nachricht und sagte gegenüber amerikanischen Medien, es fühle sich kompliziert an, davon zu erfahren, er brauche mehr Zeit, um seine Emotionen zu erklären. Für diese Art einer reflektierten Betroffenheit kann auch die berühmte letzte Einstellung von Memories of Murder stehen, die hier nicht vorweg genommen werden soll. Nur so viel: Der letzte Frame ist ein präziser und ruhiger, aber dennoch wuchtiger und im besten Sinne pathetischer Abschluss einer erst viel später abgeschlossenen Geschichte.

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