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Couch-Perle: Crimes of the Future

Ein Beitrag von Mathis Raabe

80 Jahre und noch kein bisschen müde – David Cronenbergs jüngster Film bietet mehr als nur ein Best of der Motive, mit denen er berühmt wurde.

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Filmstill zu Crimes of the Future (2022) von David Cronenberg
Crimes of the Future (2022) von David Cronenberg

David Cronenberg ist ein essayistischer und mehrdeutiger Filmemacher. Was, wenn die Zensoren Recht hätten und der Konsum brutaler Bilder zu Wahnzuständen führen könnte? (Videodrome) Was, wenn durch psychische Extremzustände eine Art Jungferngeburt möglich wäre? (The Brood) Was, wenn virtuelle Realitäten so weit fortschreiten, dass man sensorischen Input nicht mehr von Wirklichkeit unterscheiden kann? (eXistenZ) Im Gegensatz zu einem Naturwissenschaftler sucht er mit diesen Versuchsanordnungen allerdings keine klaren Antworten, sondern stellt verschiedene Thesen einander gegenüber. Aus diesem Grund verweigern sich seine Filme oft auch einer klassischen Dramaturgie.

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Die Hauptfiguren in Cronenbergs jüngstem Werk Crimes of the Future sind Performance-Künstler*innen. Die Welt des Films ist museal und kalt, die Aufführungen finden in kargen, dreckigen Lagerhallen statt. Saul (Viggo Mortensen) hat die Fähigkeit entwickelt, sich neue mehr und minder nützliche Organe wachsen zu lassen. Seine Partnerin Caprice (Lea Seydoux) entfernt ihm diese Organe in öffentlichen Operationen. Möglich ist das, weil Menschen in der Welt des Films kaum noch Schmerz empfinden, wodurch Körpermodifikationen auch sexuell fetischisiert werden. Mutationen, Modifikationen, Selbstzerstörung und das Lustpotential all dessen sind freilich altbekannte Cronenberg-Motive. Crimes of the Future hebt sie aber auf die Meta-Ebene.

Eine Szene zeigt einen Künstler, der sich am ganzen Körper Ohren hat anpflanzen lassen. In seiner Performance näht er sich den Mund und die Augen zu. „It is time to stop speaking. It is time to listen“, sagt währenddessen eine Stimme von Band. Derart plakativ ist diese künstlerische Darbietung und die Interpretation, die sie gleich selbst mitliefert, dass Cronenberg etwas aufwirft, was ihm selbst von der Kritik oft vorgeworfen wurde: dass Kunst durch Transgression tiefgründiger wirken kann als sie ist. Auch Viggo Mortensens Figur muss sich im Laufe des Films die Frage stellen: Bin ich hier wirklich künstlerisch tätig oder opfere ich mich nur körperlich auf?

Dass Cronenberg gleichzeitig auch zeitgenössische Diskurse nicht verschläft, zeigt gleich das erste Bild des Films: ein gekentertes Kreuzfahrtschiff. Wenige Meter weiter, an Land, isst ein Junge einen Plastikmülleimer. Ein weiteres interessantes Motiv: Schließlich müssen nicht nur Fische menschlichen Müll fressen, auch der Mensch nimmt im Schnitt und pro Woche knapp fünf Gramm Mikroplastik zu sich, wie eine vom WWF in Auftrag gegebene Studie 2019 ermittelte. Cronenbergs Idee einer neuen und gesellschaftlich abjizierten menschlichen Fortentwicklung, die sich von Plastik ernährt, ist also gar nicht mal so dystopisch, wie man es beim Sehen der Bilder gern hätte.

Crimes of the Future ist kein Film, der Identifikationsfiguren anbieten will – aber wie auch, wenn seine Figuren kaum fühlen können? Es ist auch kein Film, der im konventionellen Sinne spannend sein will. Wenn man ehrlich ist, tun das aber auch viele von Cronenbergs rückblickend so verehrten Filmen des 20. Jahrhunderts nicht. Es ist ein Film, mit dem der Regisseur seine eigenen Motive und Versuchsaufbauten zugleich reflektiert und an zeitgenössische Diskurse anschließt. Und wenn man seinen Überlegungen gerne folgt oder den Ästhetiken von Body Art und anderer Underground-Kultur, die durch die Kulissen referenziert wird, etwas abgewinnen kann, dann entwickelt der Film auch durchaus Unterhaltungswert.

„Crimes of the Future“ ist bei den gängigen VoD-Anbietern zur Leihe verfügbar.

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