Charlotte Wells‘ Debütfilm Aftersun war ganz gewiss eine der großen Entdeckungen des vergangenen Kinojahres. Der Film feierte seine Premiere beim Filmfestival in Cannes im Mai 2022 in der Sektion Semaine de la Critique, wo er mit dem Prix French Touch du Jury ausgezeichnet wurde. Was dann folgte, war ein – man kann es nicht anders beschreiben – Triumphzug um die Welt, der Aftersun 30 Film- und Festivalpreise und weitere 60 Nominierungen einbrachte. Für einen Debütfilm mit nahezu unbekannten Darsteller*innen eine ganz und gar erstaunliche Bilanz. 

In Aftersun erinnert sich Sophie (Celia Rowlson-Hall) an einen Urlaub, den sie vor rund 20 Jahren als Elfjährige (Frankie Corio) mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal) verbrachte. Mit einer neuen Videokamera hält Sophie dabei alles fest, filmt mal Beiläufiges, labert mit der Kamera herum, so wie das heutzutage Teenager auf ähnliche Weise mit ihren Smartphones tun würden. Als Zuschauer*in braucht man eine Weile, um sich auf diesen Bilderteppich einzulassen, zu dem Charlotte Wells Sophies vermeintliche Aufnahmen komponiert hat — zumal auf den ersten Blick nicht allzu viel passiert in diesem etwas heruntergekommenen Hotel in der Türkei. Unter der Oberfläche aber und hinter den Bildern, ausgedrückt durch kleine Gesten und kurze Gespräche schlummern die Emotionen, und so erfahren wir, dass Sophies Eltern sich gerade getrennt haben und Calum nicht mehr bei seiner Familie lebt. Ohne dass der Film dies ausbuchstabiert, bekommen wir den Schmerz mit, ahnen etwas von Calums Dämonen, die in ihm schlummern, und spüren förmlich die Anspannung, die sich in jeder Szene auf das Publikum überträgt. Und nicht selten hat man Angst, dass sich dieser Druck irgendwann einmal entladen muss, bemerkt Wut und (Auto-)Aggression, die sich mit Momenten größter Zärtlichkeit und Nähe abwechseln.

Sicher: Aftersun ist kein „leichter“ (im Sinne von leicht konsumierbarer) Film, er lässt Lücken und Leerstellen entstehen, folgt keiner erkennbaren Geschichte, ist mehr Zustandsbeschreibung als Story, und doch offenbart sich dahinter ein ganzer Seelenkosmos, eine Welt aus schmerzlicher Erinnerung, erzählt von einer Frau, die auf ihre eigene Vergangenheit und die ihres Vaters zurückblickt.

MUBI

Aftersun startete am 15. Dezember 2022 in den deutschen Kinos und ist ab dem 17.3.2023 bei MUBI zu sehen — und zwar hier. Wer den Film auf der großen Leinwand verpasst hat, kann das nun nachholen — und wir raten dringend dazu.