zurück zur Übersicht
Specials

Visueller Virtuose: Die Ästhetik des Park Chan-wook

Ein Beitrag von Moritz Henze-Jurisch

Zum Kinostart von „Die Frau im Nebel“ hat sich Moritz Henze-Jurisch mit den Filmen von Park Chan-wook beschäftigt und dessen einzigartigen Stil untersucht.

Meinungen
Die Frau im Nebel / Oldboy / Die Frau im Nebel
Die Frau im Nebel / Oldboy / Die Frau im Nebel

Park Chan-wook studierte ursprünglich Philosophie an einer Universität in Seoul. Die analytische Ausrichtung dieses Faches enttäuschte ihn jedoch. Um seinem Verlangen nach mehr Ästhetik in seinem Leben nachzugehen, beschäftigte er sich mit Fotografie und gründete einen Filmclub. Seinen anschließenden Plan Kunstkritiker zu werden, verwarf er angeblich, nachdem er Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958) gesehen hatte und arbeitete eine Zeitlang als Regieassistent, was letztendlich auch sein Einstieg in das Filmgeschäft bedeutete. Seine ersten eigenen Regiearbeiten „The Moon Is… the Sun’s Dream“ (1992) und „Trio“ (1997) sind mittlerweile ziemlich in Vergessenheit geraten. Der Grund hierfür ist relativ plump: Beide Filme sind ihm nicht besonders gut gelungen.

Park Chan-wook sieht das selbst sehr ähnlich und wie man sich erzählt, würde er beide Filme am liebsten auch für immer aus seiner Filmografie streichen. Eine Zeitlang arbeitete er als Filmkritiker, um anschließend eine spektakuläre 180 Grad-Drehung für seine Regie-Karriere hinzulegen. Als quasi Neuanfang drehte er 1999 den Low-Budget Kurzfilm Judgment, in dem aber schon sehr viel mehr seiner späteren Brillanz zu finden ist. Direkt im Anschluss folgte dann mit Joint Security Area (2000) direkt das erste Meisterwerk seiner Karriere und er wurde über Nacht zu einem der angesehensten Regisseure des südkoreanischen Kinos. 

Joint Security Area (2000), © rapid eye movies

Mittlerweile steht Park Chan-wook für noch viel mehr als das. Über die Jahre erarbeitete er sich einen Ruf als einer der renommiertesten Filmemacher unserer Zeit. Seine Filme beschäftigen sich mit einer Vielzahl an Themen und experimentieren mit verschiedenen Genres. Diese Komplexität seiner Geschichten lässt dabei eine einfache Einordnung nicht zu. So sind seine Filme beispielsweise nie bloß über das Thema Rache oder Liebe, sondern stets eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen. Dabei funktionieren seine Filme nie ausschließlich auf einer rein intellektuellen Ebene. Der unmittelbare Affekt ist bei Park Chan-wooks Filmen genauso wichtig wie das anschließende Reflektieren und Analysieren des gerade Gesehenen.

Komplexe Geschichten und düstere Parabeln

Park Chan-wooks Filme sind oft derart mit Ideen angefüllt, dass andere Filmemacher*Innen vermutlich mindestens zwei oder sogar drei Filme für denselben Inhalt benötigen würden. Besonders in den ersten 20 bis 30 Minuten erschlägt Park Chan-wook sein Publikum mit einer Vielzahl an Informationen, ehe sich die eigentliche Geschichte und deren Intention erst langsam aus diesem Wirrwarr nach und nach herauskristallisiert.

Man nehme Joint Security Area: Der Film handelt von einem Mordfall an mehreren Soldaten an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea. Die Schweizer Majorin Sophie E. Jean, gespielt von Lee Yeong-ae — mit der Chan-wook auch später an Lady Vengenace (2005) arbeitete, soll sich um die Ermittlungen kümmern und herausfinden, welche Seite für den Mord verantwortlich ist. Zu Beginn der Handlung werden wir mit Unmengen an Fragen über den Tathergang konfrontiert: Wie viele Personen waren anwesend? Wer hat geschossen und von wo? Wie viele Patronen waren in welcher Waffe?

Joint Security Area (2000), © rapid eye movies

Man könnte also vermuten, dass wir es hier mit einem Kriminalfilm zu tun haben, und dass die Aufklärung des Verbrechens der zentrale Konflikt ist. Doch zeigt sich allerdings bereits nach dem ersten Drittel des Films, dass wir auf eine Finte hereingefallen sind. In einer sehr langen Rückblende lernen wir die Beteiligten des Mordfalls kennen und plötzlich handelt Joint Security Area von der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei südkoreanischen und zwei nordkoreanischen Soldaten, direkt an der Grenze zwischen den beiden Ländern.

Da wir den Ausgang der Geschichte bereits kennen, sind wir uns die ganze Zeit bewusst, welcher Tragödie wir hier eigentlich gerade beiwohnen. Die Figuren und die Handlung des Films erhalten dadurch eine tiefere Bedeutung. Joint Security Area wird zu einer zutiefst humanitären Geschichte über die Kraft des Menschen, Freundschaften auch in den ungewöhnlichsten Situationen zuzulassen. Diese Tendenz zur Parabel kann man auf nahezu alle Filme von Park Chan-wook beziehen. Hinter den komplexen Geschichten verbirgt sich im Kern immer eine universelle Botschaft, die unabhängig von Ort und Zeit des Geschehenen funktioniert.

Visuelle Erzählökonomie

Warum Park Chan-wooks Filme trotz ihrer scheinbar völlig überladenen Geschichten so gut funktionieren, liegt in erster Linie an seinem Gespür für das visuelle Erzählen. Auf kaum einen Regisseur trifft die Floskel Every Frame a Painting so gut zu wie auf Park Chan-wook, der seine Geschichten nahezu ausschließlich über seine Bilder erzählt. Dialoge spielen oft nur eine untergeordnete Rolle und dienen als Ergänzung zu den Bildern. Man betrachte beispielsweise die Eröffnungssequenz zu Park Chan-wooks vielleicht ungewöhnlichstem Film I’m a Cyborg, but that’s OK (2006).

I’m a cyborg, but that’s okay (2006), © rapid eye movies

Der Film handelt von Young-goon (Lim Su-jeong), die in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird, da sie denkt, ein Cyborg zu sein. In der ersten Szene sehen wir sie in einer Fabrik an einem Förderband Radiogeräte zusammenbauen. Sie ist nur eine von vielen Arbeitenden in der Firma, alle sind identisch angezogen und bewegen sich roboterartig im exakt gleichen Rhythmus. Am Ende einer Kamerafahrt, sehen wir Young-goon, die als einzige nicht im Rhythmus arbeitet, sondern fasziniert auf die Lautsprecher starrt, über die Arbeitsanweisungen durchgesagt werden. Diese Szene dauert nur wenige Sekunden, erfüllt aber eine ganze Reihe von Erzählfunktionen:

  1. Sie etabliert Young-goon als unsere potenzielle Hauptfigur, da sie die erste Figur ist, die für uns aus der Masse heraussticht.
  2. Wir verstehen direkt, dass nach den Regeln dieser (Film-)Welt etwas nicht mit ihr zu stimmen scheint bzw. dass sie “anders ist”.
  3. Es wird uns direkt eine Begründung mitgeliefert, warum Young-goon die Idee entwickelt hat, ein Cyborg zu sein. Wer sich die ganze Zeit wie eine Maschine bewegt, kann sich – das ist völlig logisch – auch durchaus wie eine fühlen.

Zusätzlich ist die Szene durch die vielen Bewegungen und durch den farblichen Kontrast zwischen Blau (Die Farbgebung der Fabrik) und Rot (die Kleidung der Arbeitenden) eine Schmeichelei für die Augen.

Um alle diese Funktionen, Wirkungen und Bedeutungsebenen glaubhaft in einem Dialog unterzubringen, hätte es sehr viel mehr Zeit bedurft und es wäre außerdem ein ziemlich trockener Einstieg in den überschwänglichen und ziemlich fantastischen Film gewesen. Park Chan-wook nutzt diese visuelle Erzählökonomie in nahezu jedem Bild und lädt diese symbolisch oder metaphorisch auf, um das Maximum an Geschichte in seine Filme zu pressen.

Schuld und Sühne

Sympathy for Mr. Vengeance (2002), © Cine Qua Non Films

Die drei Filme Sympathy for Mr Vengeance (2002), Oldboy (2003) und Lady Vengeance (2005) werden in ihrer Betrachtung häufig als Trilogie zusammengefasst, da sie sich alle mit dem Thema Rache beschäftigen. Insbesondere Oldboy trug massiv zu Park Chan-wooks Popularität im Westen bei, nachdem der Film 2004 den Großen Preis der Jury von Cannes gewann. Quentin Tarantino, der in diesem Jahr Jurypräsident in Cannes war, setzte sich stark für Oldboy ein und wollte diesem sogar die Goldene Palme verleihen. Da gleichzeitig Tarantinos eigenes Racheepos Kill Bill Volume 1 und Volume 2 (2003 und 2004) sehr erfolgreich in den Kinos lief, wurde Oldboy im Westen häufig auch mit dem Tarantino-Prädikat beworben.

Das wurde dem Film nicht wirklich gerecht: Die Werke von Park Chan-wook unterscheiden sich deutlich von denen Tarantinos. Selbst das Label Rache-Trilogie sollte man kritisch betrachten. Zwar behandeln alle drei Filmen dieses Thema, sind jedoch viel stärker mit einem anderen Thema beschäftigt: Schuld und Sühne.

So handelt Sympathy for Mr. Vengeance eigentlich von einer Reihe falscher Entscheidungen, die einen Strudel von Gewalttaten nach sich ziehen und die Rache lediglich als letzte Konsequenz mit sich ziehen. Wenn am Ende des Films der Titel erscheint, kann man dies als Frage an den Zuschauenden verstehen: Haben wir immer noch Sympathy for Mr. Vengeance?

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Auch in Oldboy geht es um eine große Schuld, die der Protagonist Oh Dae-su (Choi Min-sik) auf sich geladen hat. Welche Schuld das ist, bleibt lange das Rätsel des Films. Am Ende gibt es auch keine klare Antwort, ob die Strafe für Oh Dae-Su oder seine daraus resultierenden Taten gerechtfertigt war. 

In Lady Vengeance tritt der Aspekt der Rache noch stärker in den Hintergrund. Auch hier bleibt lange ein Mysterium, warum Lee Geum-ja 13 Jahre (ein inhaltlicher Verweis auf Oldboy) im Gefängnis sitzen musste. In ihrer Zeit im Gefängnis verhielt sie sich nahezu engelhaft und half scheinbar selbstlos ihren Mitinsassinnen. Nach ihrer Freilassung fordert sie nun aber von den Menschen, denen sie geholfen hat, einen Akt der Wiedergutmachung, um ihre Rachepläne zu verfolgen. Der koreanische Titel des Films lautet grob gesetzt “gutherzige Geum-ja”, was dem Kern des Films sehr viel näher kommt. Auch hier gibt es keine moralisch eindeutige Antwort. Waren Geum-jas Taten nun ein Versuch, ihre eigene
Schuld wiedergutzumachen? Und wenn ja – wie selbstlos ist dieses Handeln letztlich einzustufen?

Vielschichtige Liebe in die Frau im Nebel

Park Chan-wooks neuester Film Die Frau im Nebel bleibt dieser Linie in sämtlichen Aspekten treu. Der Film beginnt mit einem Mordfall, den der Polizist Hae-jun (Park Hae-il) aufklären soll. Park Chan-wook erfahrene Kinogänger*innen werden dabei vermutlich schnell durchschauen, dass dieser Kriminalplot, ähnlich wie in Joint Security Area, erneut lediglich als Finte dient. Trotzdem nähert sich Park Chan-wook in diesem Film am stärksten dem Film Noir an. Dieses Subgenre des Kriminalfilms nutzt ebenfalls oft ein Verbrechen, um seine Handlung in Gang zu bringen, während der Ermittler selber mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat und häufig von einer Frau in sein Verderben gezogen wird. Der Ermittler Hae-jun steht in der Reihe mit den Protagonist*innen der Rache-Trilogie, denn auch er wird einer Schuld verfolgt.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

 Hae-jun kann nicht schlafen, denn er ist besessen von all den Kriminalfällen, die er nicht lösen konnte. Einen möglichen Ausweg sieht er in Song Seo-rae (Tang Wei), der Witwe des Ermordeten. Obwohl er diese verdächtigt, entwickelt er eine Faszination für sie und verlässt bald schon seine eigenen moralischen Pfade. Die Beziehung zwischen diesen beiden Charakteren bildet dabei das Hauptthema des Films. Park Chan-wook äußerte sich in einem Interview dazu und sagte, er wolle einen Liebesfilm erzählen, allerdings ohne die Worte Ich liebe dich.

Die Frau im Nebel (2022), © Plaion Pictures

Im direkten Vergleich mit seinen früheren Filmen fällt die Frau im Nebel ein wenig unterkühlter, distanzierter und subtiler aus, da der Fokus noch stärker als zuvor auf dem Unausgesprochenen liegt. Park Chan-wook beschwört deswegen erneut die Kraft seiner Bilder hervor, indem er sie perfekt komponiert und mit einer sehr starken Symbolik auflädt. Man achte darauf, welche Bezüge die Figuren zu Bergen und dem Meer herstellen und wie oft der Film mit diesen Bildern arbeitet. Fans des Regisseurs werden sich dabei allerspätestens während der zweiten Sichtung in Die Frau im Nebel verlieben, wenn plötzlich klar wird, dass der Regisseur den dramatischen Höhepunkt des Films schon viel früher mit der Großaufnahme einer Sushi-Schachtel vorweggenommen hat.

 

Meinungen