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... und das Kino denkt sich selbst (II): Kino als sozialer Raum

Ein Beitrag von Christian Neffe

Zweiter Teil unserer Jahresserie Korpus Kino: Wir gehen der Frage nach, was Kino überhaupt ist. Auf jeden Fall mehr als ein bloßer Abspielort für Filme. Unser Autor Christian Neffe schreibt über das Kino als Gemeinschaftsort.

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Eine Sekunde / Cinema Paradiso
Eine Sekunde (l.) / Cinema Paradiso (r.)

So selbstverständlich sprechen wir vom Kino, glauben zu wissen, was das ist. Aber was meinen wir eigentlich? Ist es der Ort, den wir im Dunkel mit anderen teilen, um durch Geschichten zu reisen? Sind es die Filme? Gehört die Filmkritik dazu und der Gang in die Bar, nach dem Abspann, das Popcorn und die Pinkelpause? Dem Kino geht es nicht gut. Es schrumpft, trocknet aus, und vielleicht stirbt es – wenn wir nichts unternehmen. Aber erstmal müssen wir wissen, was das Kino alles ist und was es alles sein kann.

Es mag eine Binsenweisheit sein, aber: Eines der Merkmale, die das große Kino vom kleinen Heimkino unterscheidet, sind die Anderen. Wo wir uns zuhause (in der Regel …) aussuchen können, wer neben uns sitzt, ist der Gang ins Kino stets mit Ungewissheit, vielleicht auch einem gewissen Risiko verbunden. Voller oder leerer Saal? Wer sitzt neben, vor, hinter mir? Wie laut wird das Popcorn-Rascheln, und gibt es wieder eine Person, die ihrer Begleitung den ganzen Film erklärt? Wird sich die Gruppe Jugendlicher vor mir während der zweieinhalb Stunden von Rheingold benehmen? Überraschenderweise ja. Und die beiden älteren Damen, die im Programmkino hinter mir ihren Weißwein schlürfen? Nein, die müssen alles kommentieren…

Das Kino ist ein Ort der Begegnung. Sowohl mit neuen, individuellen Sinneseindrücken, Erfahrungen und Perspektiven – als auch mit anderen Menschen. Mancher mehr, manche weniger angenehmer Art. Auch wenn alle aneinander vorbei in gleiche Richtung schauen, so schafft das Kino doch Gemeinschaft. Wenn auch vielleicht nicht mehr ganz so viel wie noch im prädigitalen Zeitalter.

So zumindest der Eindruck, den die Filme hinterlassen, die genau das thematisieren. Natürlich kommt da zuallererst Cinema Paradiso in den Sinn, Giuseppe Tornatores große, epochale Liebeserklärung an die Leinwand – und noch ein wenig mehr sogar an die Menschen davor. In Rückblenden erzählt ein alternder Regisseur von seiner Kindheit in einem italienischen Dorf, dessen Zentrum das örtliche Kino ist. Statt in der Kirche trifft man sich vor der Leinwand, und der liebenswerte Filmvorführer Alfredo (Philippe Noiret) ersetzt den Priester. Das Kino ist hier der Ort, der zuweilen einem Jahrmarkt gleicht, an dem sich Menschen verlieben, an dem es zu Streit kommt, an dem allem voran Zwischenmenschliches geschieht.

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Ähnliches auch in Zhang Yimous Eine Sekunde, der Mitte der 1970er Jahre in einer ruralen Gegend Chinas spielt. Der Film begleitet einen Mann, der unter allen Umständen die aktuelle Wochenschau sehen will, die parallel zu einem Propaganda-Kriegsfilm über die dortigen Dörfer gereicht wird. Ein Film, den die lokale Bevölkerung schon etliche Male gesehen hat — und trotzdem versammeln sie sich alle, um bei dem einen kulturellen Höhepunkt der Woche dabeizusein. Auch hier nimmt der Filmvorführer eine entscheidende Rolle ein, wird von den Menschen respektiert, verehrt und geachtet – was er auch mit allen Vorzügen auskostet.

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Noch eindrucksvoller als die Massen während der Vorführung ist jedoch die kollektive Anstrengung, die zuvor alle in die Säuberung des verdreckten Filmmaterials investieren. Die Menschen opfern ihr Wasser, ihren Schweiß, ihre Zeit, stellen Decken und weiteres Material bereit, um die Vorstellung zu ermöglichen – und sich weitere zu sichern. Denn wenn irgendetwas von der Beschädigung des Films nach außen dringe, so mahnt der Filmvorführer, werde das Dorf nie wieder einen Film erhalten. Und was schafft bitte mehr Gemeinschaft, als ein gemeinsames Geheimnis?

Und dann ist da noch Gegenentwurf: der einsame Mensch im Kino, umgeben von leeren Sesseln. Ein Motiv, um die (soziale) Isolation dieser Figur zu verdeutlichen und zu verstärken, wo sie doch nicht mal an einem derart gemeinschaftlichen Ort Anschluss zu anderen findet. Man denke Jean Reno als Profikiller in Leon der Profi oder Robert De Niro als Travis Bickle in Taxi Driver – es sind nur wenige Sekunden, in denen wir sie im Kino sehen, und doch sagen diese Momente so viel über sie aus. Über ihre Einsamkeit, ihre (völlig konträren) Sehnsüchte, ihre Ausgrenzung von der Gemeinschaft.

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Was uns jedoch nicht zum Trugschluss verleiten sollte, dass ein Kinobesuch ohne Begleitung nicht möglich sei. Im Gegenteil kann das unter Umständen sogar eine noch tiefere Erfahrung sein. Denn ohnehin spricht man ja im Kino eh nicht miteinander, oder meine Damen?

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