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... und das Kino denkt sich selbst (I): Schlaf und Traum

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Auftakt unserer Jahresserie Korpus Kino: Wir gehen der Frage nach, was Kino überhaupt ist. Auf jeden Fall mehr als ein bloßer Abspielort für Filme. Unser Autor Sebastian Seidler schreibt über Schlaf und Traum im Kino.

Meinungen
Kino_Essay

So selbstverständlich sprechen wir vom Kino, glauben zu wissen was das ist. Aber was meinen wir eigentlich? Ist es der Ort, den wir im Dunkel mit anderen teilen, um durch Geschichten zu reisen? Sind es die Filme? Gehört die Filmkritik dazu und der Gang in die Bar, nach dem Abspann, das Popcorn und die Pinkelpause? Dem Kino geht es nicht gut. Es schrumpft, trocknet aus, und vielleicht stirbt es – wenn wir nichts unternehmen. Aber erstmal müssen wir wissen, was das Kino alles ist und was es alles sein kann.

 

All diese Fragen mögen sich nach Haarspalterei anhören. Das Kino ist das Kino ist das Kino. Schluss. Doch mitnichten ist mit dieser Beschwörungsformel irgendetwas ausgesagt und erst recht lassen sich damit keine Probleme lösen: Es ist ungemein wichtig zu wissen, welche kulturelle Institution und Praxis da gerade ums Überleben kämpft. Aber wo soll man anfangen? Wer sollte darauf Antworten geben, die auch nur im Ansatz ein Fundament besitzen, eine Stabilität jenseits des Wunsches? Es muss dort begonnen werden, wo alles seinen Anfang nimmt: Im Kino selbst, in den Filmen, die ihre Bilderorte selbst reflektieren.

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Eine solche Reise durch die Darstellung des Kinos im Film selbst muss keiner Landkarte folgen. Die Filmgeschichte kann von allen Seiten und durch alle Zeiten hindurch betreten werden, auch und vor allem deshalb, weil sie nie an ein Ende kommen wird. Jede Geschichte über das Kino im Kino strickt weiter am ewigen Band der Bilder. Doch gibt es gegenwärtig eine interessante Häufung von Filmen, die sich auf sich selbst zurückbiegen. Damien Chazelles Babylon — Rausch der Ekstase erzählt vom Rausch der Stummfilmära, den der Tonfilm mit all seinen Erneuerungen abwürgt und den Erfolg des Kinos noch über sich hinaus wachsen lässt. Steven Spielberg, einer der einflussreichsten Filmemacher in der Geschichte Hollywoods, erzählt von seinem Werdegang in Die Fabelmans, und das Filmen erscheint als Bannung des Unbegreiflichen und Unheimlichen. Und schließlich wird ein Kino in Sam Mendes‘ Drama Empire of Light zum Hintergrund für menschliche Dramen und eine Liebesgeschichte.

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Wie aber erscheint das Kino nun in sich selbst? Was erzählen die Bilder von der magischen Welt der hellen Leinwand?

In einem ersten Beitrag einer ganzen Reihe von Denkanstößen, in denen wir der Selbstreflexion des Kinos auf die Spur gehen wollen, geht es um Schlaf und Traum.

Kino als Traum: Schlafräume
                                               von Sebastian Seidler

„Im Kino schlafen, heißt dem Film vertrauen.“
(Michael Althen)

Der legendäre Horrorfilmregisseur Dario Argento spielt in Gaspar Noés spektakulärem Demenz-Drama Vortex einen gealterten Filmkritiker, der an einem Buch über das Verhältnis von Kino und Träumen arbeitet. Zu Beginn zitiert er Edgar Allan Poe: Das Leben sei ein Traum in einem Traum, „a dream within a dream“.

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Wenn man nicht bei der banalen Feststellung stehenbleiben will, dass die auf der Leinwand aufscheinenden Bilder eine traumhafte Existenz führen, irgendwo im Dazwischen, so ist dieser Satz in seiner ganzen tiefgründigen Schönheit zu nehmen. Denn es passiert, dass wir aus einem Traum erwachen, der noch lange in den Tag hineinragt und uns buchstäblich verstimmt. Den Nachhall der Bilder, die sich als Gefühl einschreiben, gibt es auch, wenn wir das Kino verlassen und ein Film uns tief berührt hat. Nicht nur Kafkas Im Kino gewesen, geweint. Das Kino verlassen und eine Atmosphäre mitgezogen. Traumhaft, gespenstisch, als wären wir jemand anderes gewesen, und dessen Spuren erzeugen einen Widerhall.

Doch gibt es noch einen anderen Aspekt, der sich ein wenig in Richtung Eskapismus neigt, aber dennoch auf etwas ganz anderes hinauswill: Die Bilder des Kinos können die Last der Welt von uns nehmen und uns den Schlaf schenken. Es gibt Menschen, die brauchen nur im Kino sitzen, und schon schlafen sie ein. Und nur im Schlaf gibt es den Traum. Tagträume sind zu sehr verwoben mit dem Wollen und den Aufgaben der Welt, den Projekten und Absichten, den Berechnungen. So denkt Jean-Luc Nancy in seinem schmalen Essay Vom Schlaf über diesen komplexen Zustand nach: Die Welt verschwindet nicht. Nur die Wachsamkeit schläft ein. Wir aber behalten einen Bezug zur Welt und haben ein seltsames Bewusstsein von unserer Bewusstlosigkeit, in der sich die Bewegung der Träume eine Freiheit schenkt. Kurz: Wir brauchen den Schlaf als Medium, als Kommunikation. Wenn das Kino auch den Schlaf schenkt – ist das nicht ein Wunder?   

Die Leinwand und das Dunkel des Raums dämpfen die Welt außerhalb des Kinosaals. Nicht mehr aus unserem Inneren müssen Sinn und Bedeutung kommen – der narrative Strom der Bilder übernimmt, nimmt uns an den Haken, und man kann auf Autopilot schalten: Etwas denkt. Welch‘ ein Frevel, mag der Cineast da sagen: Im Kino schläft man nicht ein! Das mag stimmen und ist dennoch eine Anmaßung. Nochmal: Gibt es eigentlich ein schöneres Geschenk als den Schlaf und ein Abenteuer des Traums? Wieso kann darin nicht auch eine Funktion des Kinos liegen, von der wir zumindest lernen könnten?

Sehr früh in der Filmgeschichte gibt es in Buster Keatons Sherlock Jr. (1924) eine Szene: Der Filmvorführer schläft ein, und fortan sehen wir seinen Traum von diesen Bildern. Er springt in die Leinwand, nimmt teil. Ein Motiv, das es häufig im Kino geben wird: Man denke an Last Action Hero mit Arnold Schwarzenegger, in dem ein Junge durch ein magisches Ticket in den Film eintauchen kann. Es hat nicht direkt etwas mit Schlaf zu tun. Doch ein wenig bietet dieses Ticket ein Symbol an: Trete ein in deinen Schlaf. 

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Eine andere Szene, über die ich nachdenke, seit ich sie als Kind gesehen habe, findet sich in Twelve Monkeys von Terry Gilliam: Da sitzen Cole (Bruce Willis), der tragische Zeitreisende, und Kathryn (Madeleine Stowe) im Kino. Sie verstecken sich vor den Häschern, und auf der Leinwand ist die Muir-Woods-Sequenz aus Vertigo zu sehen, in der Kim Novak und James Stewart die Jahresringe eines Mammutbaums betrachten und über Zeit und Vergänglichkeit sprechen. Cole ist sich sicher, dass er die Szene bereits als Kind gesehen hat: Der Film bliebe offenkundig unverändert, während wir uns verändern und damit die Perspektive gegenüber dem Film im Wandel bleibt. 

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Bereits Vertigo handelt von Verwandlung und Trug: Hitchcocks Film entfaltet dabei natürlich auch eine traumwandlerische oder gar schlafwandlerische Atmosphäre. Die Rolle der Zeit wird in eben jener Szene reflektiert. Im erzählerischen Konstrukt von Twelve Monkeys gibt Gilliam einem anderen Film derart viel Raum, um die Handlung auf eine andere Ebene zu heben: Nicht er selbst muss erzählen, nein – er kann sich zurücklehnen, und Hitchcock übernimmt. Selbstverständlich verändert sich der Sinn der Szene im Verhältnis zum Zeitreisethriller, weil sie in einen anderen Sinnzusammenhang eingebettet wird. Metaphorisch kann man durchaus sagen: Ein anderes Bewusstsein (Vertigo) dringt in Twelve Monkeys ein.

Kiarostami spricht in diesem Interview über Schlaf, den Filme einem schenken können.  

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Dann folgt ein Schnitt. Wir verlassen das Kino. Zeit vergeht. Dann erwacht Cole in einem nahezu leeren Kinosaal. Kathryn ist nicht mehr da. Er trägt nun eine Perücke und hat einen falschen Bart im Gesicht kleben, als hätte ihn der Traum verwandelt, als wäre Vertigo durch ihn hindurchgefahren. Sich verändern heißt auch träumen. Dafür müssen wir aber erstmal schlafen. Vielleicht sollten wir auch über dieses Potenzial des Kinos nachdenken: Es lässt uns in eine Sicherheit fallen. Eine eigenwillige Perspektive. Doch müssen wir akzeptieren, dass das Kino eben nicht nur Film ist. Kino ist eine Praxis des Lebens und somit auch des Schlafs. Denn nur wer sich sicher fühlt, der kann schlafen: „Wer nicht nicht aufzuwachen versteht, wer in der Höhlung des Schlafs auf der Hut bleibt, der oder die bleibt in seiner oder ihrer Angst stecken.“ (Jean-Luc Nancy, Vom Schlaf)

Weitere Filme, in denen im Kino geschlafen wird – wobei noch gesagt werden muss, dass das Kino selbst im Film selten als Ort des Schlafes gezeigt wird, was wiederum zeigt, dass es wichtig ist, darüber nachzudenken. Vor dem Fernseher schlafen die Menschen im Film nämlich ständig. 

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