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Specials

Filmische Sinnlichkeit: Sex auf der Leinwand

Gibt es gute Sexszenen im Kino? Momente, in denen nicht einfach nur nackte Haut gezeigt wird, sondern das Begehren filmisch wird? Die Redaktion stellt ihre Favoriten vor.

Meinungen
Sexualität

Tocotronic sangen auf ihrer ersten Platte Digital ist besser noch davon, dass man nur auf Englisch über Sex singen könnte. Auch im Kino ist das mit der körperlichen Liebe so eine Sache. Sinnlichkeit lässt sich nicht immer so einfach auf die große Leinwand bringen. Sich in den Laken räkelnde nackte Körper reichen da nicht. Zumal es besonders unangenehm ist, wenn insbesondere der weibliche Körper ausgestellt und verdinglicht wird. Doch es gibt auch die anderen Szenen, in denen eine Erotik, ein Begehren und eine Berührung auf zauberhafte Weise eingefangen wird. Wir stellen anlässlich des Kinostarts von Irrlicht – inszeniert von dem portugiesischen Filmemacher João Pedro Rodrigues (Der Ornithologe), der ein Experte für sinnliche Bilder ist – unsere Favoriten vor.

„Quante volte… quella notte“ von Mario Bava

Als besonders originell ist mir eine Szene aus Mario Bavas 1972er Sexkomödie Quante volte… quella notte im Gedächtnis geblieben. Der Film spielt nach dem Rashomon-Prinzip die Geschehnisse einer Dating-Nacht aus vier verschiedenen Perspektiven durch. Die zweite Perspektive erzählt aus der Sicht des Mannes (Brett Halsey) - doch unterläuft dessen narrative Autorität ständig, indem die Kamera durch die Augen der Frau (Daniela Giordano) schaut. Zum Beispiel schon, wenn sie auf ihren Liebhaber wartend mit einer transparenten Vase spielt, die sie vor ihr Gesicht hält. Immer, wenn sie sie wegnimmt, hat Halsey eine Schicht Klamotten weniger an.

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Einen seiner wenigen sinnlichen Momente hat der sonst eher intellektuell angelegte Film kurz darauf, wenn sich die beiden im Bett wälzen. Bava, stets darauf bedacht die Privatsphäre seiner Hauptdarstellerin zu wahren, schwelgt nicht einfach in den Körpern, sondern filmt stets fragmentierte Körperteile: Den Hals, ein Knie, einen Schenkel. Langsam scheint die Kamera sich über den Körper vorzutasten, so perfekt fokussiert, das einzelne, zarte Härchen sichtbar werden. Die Körper werden bei Bava reduziert auf das Grundlegendste, werden schlicht zu weiteren Bausteinen in seiner Versuchsanordnung, die letztlich nicht die Figuren an der Nase herumführt, sondern allein das sensationsgierige Publikum selbst.

Katrin Doerksen

„But I’m A Cheerleader“ von Jamie Babbit

Sex im Film? Da kannte ich lange Zeit nur zwei Spielarten: Entweder wurde rasch abgeblendet – oder es wurden zwei Personen (zumeist zwei austauschbare Barbie-und-Ken-Verschnitte) gezeigt, die sich mit unglaubhafter Wollust gegenseitig ins Gesicht atmeten, ohne sich dabei die schicken Frisuren zu ruinieren. Sex im Film war also entweder etwas, für das man sich offensichtlich schämen musste, oder etwas extrem Langweilig-Befremdliches. Ich wollte das alles nicht. Doch dann habe ich But I’m A Cheerleader von Jamie Babbit gesehen. Und da war das endlich mal völlig anders.

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Der Film erzählt von der Highschool-Schülerin Megan (Natasha Lyonne), die von ihren besorgten Eltern ins Umerziehungs-Camp True Directions eingewiesen wird, wo junge Menschen in einem Fünf-Stufen-Programm zur Heterosexualität finden sollen. Dort lernt Megan die rebellische Graham (Clea DuVall) kennen – und wird bald selbst zur Aufbegehrenden. Vieles an diesem Werk ist großartig: der satirische Schwung, die schrillen Bonbonfarben … und nicht zuletzt die zentrale Liebesszene zwischen Megan und Graham, die ganz vom erotischen Funkenschlag zwischen Lyonne und DuVall lebt und mit dem Song Glass Vase Cello Case von Tattle Tale kongenial unterlegt wurde.

Diese Szene hat mir damals – als Teenager – die Zuversicht gegeben, dass Sex etwas Besonderes, Schönes, Spaßiges, Aufregendes, Wertvolles ist. Zum Glück! Deshalb: Danke, Jamie Babbit! Danke, Natasha Lyonne! Danke, Clea DuVall! Ihr seid (meine) Heldinnen.

Andreas Köhnemann

Secretary von Steven Shainberg

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Nicht immer ist der sinnlichste Sex penetrativer Art. Eine Szene, die ich nie vergessen werde, weil sie Verlangen und Lust in solch freien und feinen Nuancen zeigt, findet sich in Secretary von Steven Shainberg. Lee Holloway (Maggie Gyllenhaal) ist eine junge Sekretärin, die seit Kurzem bei dem etwas neurotischen Anwalt Edward E. Grey (James Spader) arbeitet. Lee ist selbst nicht die Einfachste aber irgendwie knistert es bei den beiden immer heftiger, je mehr Tippfehler Lee mal mehr, mal weniger versehentlich produziert. Das Ganze kulminiert in einem Augenblick, in dem Edward sich nicht mehr beherrschen kann und sich Lee als dominanter Mann offenbart. Viel spannender ist allerdings Lees eigene und erste sexuelle Erkenntnis, die quasi mit dem ersten Schlag einsetzt und ihr Leben für immer verändern wird. 

Dass diese Szene nicht verachtend oder albern wirkt, ist allein den Darstellern zu verdanken, deren Stimmen, Gesichter und Körper in feinsten Nuancen die gesamte Gefühlspalette des ersten Mals durchspielt. 

Beatrice Behn

Her von Spike Jonze

Nicht immer ist der schönste Sex penetrativer Art? Ich würde noch weitergehen und behaupten: Er muss nicht einmal körperlich sein. Dass Erotik auch zwischen Mensch und Maschine respektive Software möglich sein kann, ist nämlich eine der vielen Fragen, denen sich Spike Jonze in Her (2013) widmet. Darin versucht der labile Einzelgänger Theodore Twombley (Joaquin Phoenix) seiner Einsamkeit zu entfliehen und erwirbt deshalb ein Betriebssystem namens Samantha (gesprochen von Scarlett Johannson). Die hat nur wenig mit ihren zeitgenössischen Vorläuferinnen Siri und Alexa gemein, ist stattdessen eine echte künstliche Intelligenz (KI), imstande also, selbstständig zu lernen und sich zu entwickeln.

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In einem schwachen Moment - Theodore wurde soeben von seinem Date abserviert, Samantha steckt in einer existenziellen Krise - brechen sich die Gefühle der beiden Bahn. Ganz verhalten und zärtlich nähern sie sich auf rein verbaler Ebene an: erst eine Berührung, dann ein Kuss, bis es schließlich zum Höhepunkt kommt.

Jonze zeigt zunächst nur Twombleys Gesicht in Nahaufnahme, blendet im entscheidenden Moment jedoch ab. Übrig bleiben ein schwarzes Bild, die sanften Klänge eines Pianos und die Stimmen der Protagonisten. Die Visualisierung bleibt also der Imagination der Figuren und der des Publikums überlassen. Gerade deshalb fühlt sich diese entkörperlichte Intimität für mich um ein Vielfaches gefühlvoller an als die konkreten Darstellungen vieler anderer Filmen. Jonze entkoppelt den Sex hier von seiner physischen Dimension und lässt ihn gänzlich auf kognitiver und emotionaler Ebene stattfinden. Samantha ist dabei mehr als nur ein sexuelles Surrogat für eine anderen Person (wie es etwa die „Lustmodelle“ der Replikanten in Blade Runner sind). Überhaupt ist es bemerkenswert, dass Jonze hier eine der wenigen positiven filmischen Zukunftsvisionen entwirft, in der Mensch und (denkende) Maschine nicht nur koexistieren, sondern auch ehrliche Gefühle füreinander entwickeln können.

Christian Neffe

Shape of Water — Das Flüstern des Wassers von Guillermo del Toro

Wollte man eine gelungene Sexszene an der von ihr evozierten Sensorik festmachen, so sollte man definitiv das geflutete Badezimmer Elisas (Sally Hawkins) in Guillermo del Toros Shape of Water – Das Flüstern des Wassers anführen: Not hot, but wet! Das Badezimmer, in dem sich die sonst mit Masturbation in der Wanne befriedigende und schüchterne Außenseiterin mit einem amphiben Fabelwesen — vielleicht ist er sogar ein Gott! — symbiotisch vereinigt, ist ein Feucht(t)raum im wahrsten Sinne des Wortes.

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Die Angelegenheit und Szene sind so nass, dass das ganze Wohnhaus und das darunter liegende Kino geflutet wird, Regierungen mit bösen Absichten mittels Liebe ein Strich durch die Rechnung gemacht wird und sogar Elisas bester Freund Giles (Richard Jenkins), dessen Katze das Wesen zuvor verspeist hat, alles verzeiht, obwohl Giles andersherum wohl kaum zu verzeihen ist, dass er ausgerechnet während des Sex hineinplatzt. Da es bekanntlich schwierig ist, Sex mit einem Fabelwesen authentisch auf Leinwand zu bannen, ist wiederum del Toro aus Sicht des Publikums die verhaltene Darstellungsweise zu verzeihen — denn Elisas triumphaler postkoitaler Blick am Ende der Szene macht dahingehend alles wieder wett!

Hiermit endet mein Plädoyer für revolutionäre „Unschulds-Erotik“ in und außerhalb des Films: Außenseiter*innen, lasst eure Libido für eine Überschwemmung sorgen, damit bestehende Machtverhältnisse mittels beim Sex produzierter Flüssigkeiten so lange geflutet werden, bis wir im schönen Atlantis leben!

Verena Walzl

My Own Private Idaho von Gus Van Sant

Es ist ein wenig seltsam. In meiner Erinnerung handelt es sich bei der Sexszene in Gus van Sants Meisterwerk um einen Dreier. Dabei sind es in der Tat bloß Carmella (Chiara Caselli) und Scott (Keanu Reeves), die in dem alten Farmhaus miteinander schlafen. Zuvor wird Mike (River Phoenix) von Scott mit vielsagenden Blicken gebeten, doch bitte vor dem Haus zu warten. Die Liebe, die hier im Spiel ist, kreuzt die Geschlechter. Mike begehrt Scott. Seine Gefühle werden jedoch nicht erwidert und die Liaison der jungen Italienerin mit seinem besten Freund bricht ihm das Herz.

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Die Sexszene selbst ist kurz, aber von einer durch und durch besonderen Sinnlichkeit. Van Sant lässt sein Liebespaar in der Bewegung innehalten, sodass die Bilder wie Fotos wirken. Dabei sind minimale Bewegungen sichtbar: das Zittern der Hand oder wehendes Haar. Diese Unentschiedenheit zwischen Bewegung und Stillstand ist zauberhaft, weil das Begehren darin atmen kann, die Anziehungskraft der Körper vibriert und das Dazwischen in den Vordergrund gerückt wird. Gleichzeitig scheint sich Mike in das Geschehen einzuschreiben, sein melancholisches Gefühl und seine Sehnsucht: Letztlich bleibt es nämlich offen, was wir da eigentlich sehen, ob es tatsächlich der Sex ist, der passiert, oder jene Bilder davon, die im Kopf von Mike stehen bleiben. So erzählt diese Szene mehr vom Begehren, über das wir ohnehin mehr nachdenken sollten als über die zehn Tipps für besseren Beischlaf aus irgendeiner Zeitschrift. Und vielleicht ist es einfach so, dass diese Form der Anziehungskraft besser durch die Fotografie eingefangen wird.

Und dann fällt mir ein, warum ich ständig an einen Threesome denke. Schuld ist Udo Kier und seine seltsame Aufführung mit der Lampe, die sich in der Erinnerung vor die andere Sexszene schiebt. Da schlafen Mike und Scott für Geld mit Hans (Kier). Van Sant wählt dieselbe Form, in der die drei Männer wie Statuen der Wollust wirken: schön und verführerisch. Und durch die Ähnlichkeit der Form hält später auch die Melancholie ihren Einzug in das Liebesspiel zwischen Scott und Carmella. 

Sebastian Seidler

Der seidene Faden von Paul Thomas Anderson

Die Nennung dieses Titels in dieser Sammlung könnte für Irritationen sorgen: Gibt es darin eigentlich eine explizite Sexszene? Nein. Und genau deshalb muss dieser Film hier auftauchen, da viel zu viel über Sex geredet wird, wie als handle es sich um eine bloße Turnübung ohne Kleidung. In Paul Thomas Anderson Meisterwerk (ja, dieser Film ist so viel feiner als der so gefeierte There will be blood) umgarnt der exzentrische Modedesigner Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis)  im Lodon der 50er Jahre die direkte und lebensfrohe Alma (Vicky Krieps), und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das Schneidern, das Nehmen der Maße und die Anprobe werden zu einer Ersatzhandlung, zu einem sinnlichen Akt. Wen oder was begehren wir? Eine Person oder einen Stil?

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Paul Thomas Anderson webt seinen Film aus einem feinen sinnlichen Gewebe visueller Erzählkunst: Da sind zwei Menschen, die nicht mit und nicht ohne einander können und immerzu spürt man das Begehren. Es verkörpert sich in den Kleidern, die sich an den Körper schmiegen: Das Ankleiden ist nur die invertierte Form des lustvollen Entkleidens. Und vielleicht erzählt uns der Film ein Geheimnis über die Erotik: dass es dabei gar nicht um die Nacktheit geht. Das Anziehen und Verdecken ist der Schlüssel, eine Berührung – ein heftiger Kuss.  

Sebastian Seidler

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