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Fiktionsbescheinigung: „Für die Deutschen sind wir wie Schafe“

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

In der Berlinale-Sektion Forum wirft eine Filmreihe einen Blick auf migrantisches Leben und zeigt Perspektiven, die in Deutschland lange Zeit marginalisiert wurden.

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Kara Kafa
Kara Kafa (1979)

Die sogenannte Fiktionsbescheinigung ist ein Dokument, mit dem Ausländer in Deutschland ein vorläufiges Aufenthaltsrecht nachweisen können. Die Betonung liegt auf: Vorläufig, nicht gesichert. Seit ein paar Jahren steht dieser absurde Begriff aber auch für eine spezielle Filmreihe im Rahmen der Berlinale-Sektion Forum, die migrantische Perspektiven auf Deutschland sichtbar macht. Perspektiven, die lange Zeit marginalisiert waren und es zu weiten Teilen nach wie vor sind.

Kara Kafa (1979) © Korhan Yurtsever

Am anschaulichsten kann das eine Figur aus Kara Kafa erklären, die ihre Situation mit Schafen vergleicht: „Sie geben dir alles“, sagt sie. „Fleisch, Milch, Wolle, Leder. Dafür gibst du ihnen Futter und einen Unterstand. Für die Deutschen sind wir wie Schafe.“ Kara Kafa wurde bei seiner Fertigstellung 1979 in der Türkei sofort verboten und ehrlich gesagt wundert mich das nicht. Im Sozialdrama von Korhan Yurtsever kommen weder die Deutschen noch die türkische Regierung gut weg. Es ist ein kommunistisches und feministisches Manifest, ganz und gar auf Seiten der Arbeiter stehend. Im Mittelpunkt eine türkische Familie vom Dorf mit zwei Kleinkindern und einem Baby auf dem Weg. Beide Eltern finden Arbeit in Köln, Anschluss bei der Gastarbeiter-Community, doch dann geraten die Ereignisse immer mehr außer Kontrolle.

Kara Afa (1979) © Korhan Yurtsever

Mehr und mehr verlagert Yurtsever die Perspektive dabei auf die Kinder. Das kleine Mädchen darf schon bald das Haus nicht mehr verlassen. Es soll das Baby hüten, nur darf eben keiner mitbekommen, dass sie dafür die Schule sausen lässt. Also wird erzählt, sie sei in die Heimat zurückgeschickt worden. Der Junge unterdessen durchstreift ziellos die Straßen, versucht mit den ersten Fetzen aufgeschnappten Deutschs Freunde zu finden, wünscht sich nichts sehnlicher als ein eigenes Fahrrad. Kara Kafa zeigt die ganze Bandbreite der Konsequenzen, die das deutsche Wachstumswunder auf diese kleine Familie hat: Arbeitslosigkeit, Alkohol und Zigaretten, Eheprobleme, Gewalt, die sich selbst überlassenden Kinder. Und er zeigt einen Ausweg: Die Ehefrau, die zur Aktivistin wird, ihren verzweifelten Mann in Schutz nimmt und klarsichtig Kapitalismus und Rassismus als Wurzel allen Übels identifiziert. Der intensive Nachhall von Kara Kafa steigert sich sogar noch weiter, weil ein zweiter Film der Reihe eine ähnliche Geschichte noch einmal erzählt – diesmal in der dokumentarischen Variante.

Mein Vater, der Gastarbeiter (1995) © Rolf Blank & Ralf Klingelhöfer / zero one film

Der Kontrast könnte kaum größer sein: In der ersten Einstellung von Mein Vater, der Gastarbeiter rennen barfüßige Kinder über einen Feldweg in einer hügeligen, kargen Gegend. Schnitt: Die Container und Kräne des Hamburger Hafens füllen die Leinwand aus. Niemand laufe hier mehr mit seinen Füßen auf der Erde entlang, sagt eine Stimme aus dem Off. Und wenn, dann ist es so besonders, dass es sich ‚Spaziergang’ nennt. Die Stimme gehört Yüksel Yavuz. Sein Vater kam 1968 als Gastarbeiter nach Hamburg: Ein Jahr Arbeit in der Fischfabrik, anschließend fünfzehn Jahre in der Werft. Dann kehrt er ohne Rente oder andere Ansprüche zu Frau und Kindern zurück, in ein kurdisches Bergdorf, wo es neben Ziegen und Kühen vor allem türkische Panzer gibt.

In Mein Vater, der Gastarbeiter konfrontiert Yavuz seine inzwischen gealterten Eltern mit dieser Zeit, stellt ihnen Fragen, fährt mit ihnen noch einmal nach Deutschland, wo ein Teil der Familie nach wie vor lebt. Sie schauen sich die Baracken der Arbeiter an, zwölf Quadratmeter Wohnraum pro Mensch. Vor allem bleibt dabei eine Schlüsselszene im Kopf, vor den Toren der Werft. Yavuz’ Vater spricht in den höchsten Tönen vom Direktor, dem es in den letzten Jahren gelungen ist, das Unternehmen stattlich zu vergrößern. Dann eröffnet ihm sein Sohn: Genau dieser Direktor hat dem Filmteam keine Drehgenehmigung auf dem Firmengelände erteilt. Nicht einmal der Vater darf es allein betreten. Sie stehen direkt vor dem Tor, aber hier, vor dem Pförtner, ist Schluss. „Ein undankbarer Mensch“, sagt der Vater gefasst, aber in seinem Gesicht ist das wahre Ausmaß seines Schmerzes zu sehen.

Mein Vater, der Arbeiter (1995) © Rolf Blank & Ralf Klingelhöfer / zero one film

Das Werk des Arbeiters, sinniert Yüksel Yavuz in seinem Film, ist auch deswegen so prekär, weil das Resultat seiner Mühen nicht die Spuren seiner individuellen Leistung offenbart. Die sichtbaren Spuren trägt allein der Körper des Arbeiters. Im Fall der Gastarbeiter sei diese Kränkung doppelter Natur, weil die Gesellschaft, in der sie lebten, mehrheitlich nicht nur ihre Arbeit geringschätzten, sondern auch noch sie persönlich. Sein Vater habe in seiner Zeit in Deutschland nur drei Wege gekannt, erzählt Yavuz: Den Täglichen zur Arbeit, den Wöchentlichen zum Fischmarkt und den Abendlichen ins Café, wo Männer an niedrigen Tischen sitzen, Tee aus bauchigen Gläschen trinken und Rommé spielen.

In diesem Moment blitzt eine Erinnerung an einen weiteren Film aus der Reihe Fiktionsbescheinigung auf: Ein Herbst im Ländchen Bärwalde endet in einer Kneipe, in der sich Bauern zum Feierabend treffen. Jemand spielt Akkordeon, in der Ecke steht ein gelb gekachelter Ofen. Gautam Bora, aus Indien als Filmstudent in der DDR, porträtiert drei Generationen der Bauernfamilie Balke im Herbst 1982. Bärwalde liegt im Niederen Fläming, weit südlich von Berlin und kurz vor der Grenze nach Sachsen-Anhalt; die Menschen dort sprechen ein merkwürdiges R, irgendwo zwischen einem krachenden Laut und dem englischen Heiße-Kartoffel-R.

Ein Herbst im Ländchen Bärwalde (1983) © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF / Gautam Bora / Tony Loeser / 1983

Ein Herbst im Ländchen Bärwalde ist eine umgekehrte Ethnographie, inspiriert von den Bildern riesiger landwirtschaftlicher Maschinen, die Bora als Kind in Büchern über die Agrarwirtschaft sozialistischer Staaten entdeckt hat. Traumbilder sind es für ihn – für Familie Balke sind die Maschinen der Graben, der sich zwischen den Generationen auftut. Die Mittelalten und Jungen sitzen auf Traktoren, der Großvater ist noch mit Zugpferd und Pflug auf dem Feld. „In meinem Land würden sich viele Menschen ein Stück Land und ein Zugtier wünschen“, erzählt der Regisseur aus dem Off. Und auch: „Wer dort als Bauer geboren wurde, bleibt für immer Bauer.“

Ein Herbst im Ländchen Bärwalde (1983) © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF / Gautam Bora / Tony Loeser / 1983

Trotzdem ist Ein Herbst im Ländchen Bärwalde kein Culture-Clash-Film, auch kein romantisierender Film. Neben den Alltagsbeobachtungen sind darin am interessantesten die nuancierten Interviews mit den Mitgliedern der Familie Balke: Zuerst demonstrieren sie so etwas wie eine bescheidene, resignative Zufriedenheit angesichts der eigenen Lebensumstände: Es hat immer gereicht, muss ja, geht schon alles. Dann schweigsames Brüten, dann kommen in lapidar hingepfefferten Äußerungen die Probleme heraus, nur um sie im nächsten Augenblick wieder schulterzuckend beiseite zu wischen. Nie will der Mann in den Urlaub fahren, beschwert sich Frau Balke, man müsse doch mal raus. Immer verschwinde er Abends in die Kneipe, keiner der Männer beteilige sich in irgendeiner Weise am Haushalt, den sie zusätzlich zu ihren Pflichten als Bäuerin täglich verrichte.

An dieser Stelle rücken die Familie Balke und Yüksel Yavuz’ Familie aus Mein Vater, der Gastarbeiter trotz ihrer geografischen und kulturellen Unterschiede erneut ganz nah zusammen. Im kurdischen Dorf hatte es eine ähnlich Szene gegeben, in der Yavuz’ Mutter bitter darüber klagt, ihr Mann habe immer nur getan, was er für richtig hielt, ohne ihre Bedürfnisse, geschweige denn ihre Wünsche zu berücksichtigen. Hach ja, das Patriarchat, der wahrscheinlich größte gemeinsame Nenner der verschiedenen Schichten und Kulturen …

Ordnung (1980) © Bert Schmidt

Noch ein letzter Moment in der Reihe Fiktionsbescheinigung sei genannt, der nicht so schnell wieder aus dem Kopf geht: Ein Mann läuft eine Straße entlang. Das Viertel ist gediegen, substanzielle Altbauten in Frankfurt am Main, die Gardinen noch zugezogen, kein Mensch sonst unterwegs. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um, legt die Hände an die Lippen und schreit aus vollen Leibeskräften: „Aufstehen!“ Die Reaktionen darauf sind heftig, Fenster werden geöffnet, Beleidigungen geschrien, der Vollidiot solle sich verziehen. Aber wohin? Er wohnt ja hier.

Ordnung (1980) © Bert Schmidt

Ordnung ist ein Schwarzweißdrama des Iraners Sohrab Shahid Saless, der ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre vornehmlich und häufig unter prekären Verhältnissen in Deutschland lebte und drehte. Der Störenfried ist in seinem Film alles andere als ein Fremder, vielmehr eine echte Bio-Kartoffel: Herbert (Heinz Lieven), verheirateter Bauingenieur Mitte Vierzig, der nach zwei Jahren ohne Job keinen Sinn mehr darin sieht, jemals wieder zu arbeiten. „Ich tu doch damit keinem was“, seufzt er in einem resignativen Moment, aber niemand in dieser engen Welt zwischen Feierabendfernsehen und Wochenendspaziergängen im Wald kann das verstehen. Kann auch nur verstehen, dass er nachts um zwei Appetit auf Pfannkuchen bekommt.

Die Kamera bleibt die meiste Zeit an ihrem antriebslosen Protagonisten kleben, aber eigentlich geht es in Ordnung weniger um ihn selbst als um die Gesellschaft, die beim kleinsten Abweichen von eben jener Ordnung als grundlegendem Daseinsprinzip heillos überfordert ist. Der Regisseur selbst dürfte dieses Gefühl gekannt haben. Die bundesrepublikanische Ausländerbehörde stempelte ihm in seinen Pass: „Die Aufenthaltserlaubnis ersetzt nicht die Arbeitserlaubnis.“

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