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Nachflimmern: High-Rise

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Ben Wheatley ist mit „High-Rise“ eine eigenständige und eigenwillige Adaption von J.G. Ballards Kultroman gelungen: In einem hochgewachsenen Traum aus Beton, der in diesem Film die Wolken kolonisiert, ist das Chaos ein System. Ein Nachflimmern über kapitalistische Räume und neoliberale Brüche. 

Meinungen
High Rise

Jede Woche erscheinen auf den bekannten Streaming-Plattformen Unmengen von Filmen. Wir können uns vor Geschichten, Filmen und Serien, ja vor Bildern gar nicht mehr retten. Doch wenngleich es so scheint, als wäre alles nur einen Klick entfernt, gibt es am Rande dieser Masse immer noch Filme, die kurz vor dem Vergessen stehen und dabei so schön hell und verlockend flimmern. Manche werden wahrgenommen, aber nicht angerührt, weil Vorurteile bestehen. Gründe dafür können Inhalt, Ästhetik oder Gattung sein. Unser Autor wundert sich seit Kinostart von High-Rise, warum der Film hierzulande bei der Filmkritik eigentlich so schlecht abgeschnitten hat: Immerhin handelt es sich um einen der klügsten Filme über die Dynamiken des Neoliberalismus, der zudem mit wunderschönen Bildern begeistert. 

Der Junge beobachtet seine Mutter und den Nachbarn durch ein Kaleidoskop. Als der Mann ihn entdeckt, fragt er den Jungen, was er da mache. Die Antwort fällt eindeutig aus: Es sehe die Zukunft, antwortet das Kind. In dieser kommenden Zeit wolle er besser sein als der Typ, den er vor sich sieht. Diese Szene ist einer der Schlüsselmomente in Ben Wheatleys komplexem Thriller High Rise. Das Kaleidoskop erzeugt minimale Verschiebungen des betrachteten Objekts, verschobene Versionen der gleichen Sache, die sich nicht ohne eine Differenz wiederholt. Anders ausgedrückt: Was sich verändert, ist jeweils die Stellung im kaleidoskopischen Raum.

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Die Logik in Wheatleys Film ist durch und durch kaleidoskopisch. Es geht um einen Lebensraum, ein Hochhaus brutalistischer Architektur, das die gesellschaftliche Zukunft darstellen soll. Außerhalb von London, errichtet in einem Brachland, ist das High-Rise-Gebäude einzigartig. Drei weitere Wohntürme sollen folgen. Im Inneren dieser mächtigen Riesen kann nicht bloß gewohnt werden. Das ganze Leben will dort verbracht sein: Kindergarten, Supermarkt, Friseure, Schwimmbad – man muss eigentlich nur noch zum Arbeiten raus in die Welt vor der Tür.

Ordnung ist Chaos

Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) erhofft sich mit dem Kauf der Wohnung ein Abtauchen in die Anonymität — seine Wohnung eine Trutzburg. Aber warum nur? Was genau in der Vergangenheit passiert ist, wird nicht ganz klar; ein Todesfall, eine Trennung, Schwester oder Geliebte. Aus der erhofften Ruhe wird es jedoch nichts, da ein reges soziales Treiben in diesem Schmelztiegel herrscht.

Wohnträume aus Beton, © DCM Film Distribution

Unten wohnen die Armen, die nach normalen Maßstäben immer noch genug hätten. Doch bereits der Nachbar, obgleich auf derselben Stufe, lässt die eigene Zufriedenheit infrage stellen. Hinzu kommt, dass die soziale Stellung sich im Stockwerk, auf dem man eingezogen ist, widerspiegelt. Der Wert der Existenz bemisst sich an der Höhe. Ganz oben thront folgerichtig der Architekt Anthony Royal (Jeremy Irons), dessen Baby die gesamte Anlage ist. Als es zu Stromausfällen und anderen technischen Ausfällen kommt, stürzt die wohlgeplante Ordnung jedoch in sich zusammen. Wobei sich am Ende die Frage stellt, ob all das Chaos und all die Revolte nicht bereits einberechnet waren.

Die Oberen wollen sich jedenfalls das faule Pack vom Leib halten, ihre Krümel sichern, während in den unteren Stockwerken vom sozialen Aufstieg geträumt wird: Ein Traum der Revolte breitet sich aus. Eine wilde Party beginnt, die bald in erschreckend lustlosen Orgien, schließlich in Mord und Vergewaltigung mündet. Der einzige Charakter, der aus dieser Nummer relativ unbeschadet herauskommen wird, ist Dr. Laing. Dieser, so kann man das Ende durchaus verstehen, erwacht in einer neuen Ordnung, deren Nutznießer er nun sein darf. 

Exzesse der Oberschicht, © DCM Film Distribution

Die letzten Worte sind dann auch jene von Miss Neoliberalismus Margaret Thatcher höchstselbst, die den freien Markt beschwört, bis dann der Traum vom High-Rise buchstäblich in einer Seifenblase zerplatzt. Aber wer denkt, damit sei die Zukunftsidee dahin, der irrt: Das Zerplatzen der Träume wird ab nun in den Markt eingespeist, um alles in Bewegung zu halten. Die Krise – 2008 und seine Folgen haben es uns vor Augen geführt – gehört zum Kapitalismus, der daraus lernt, sich anpasst und neue Märkte erschließt. Selbst während der Corona-Pandemie haben die Reichsten der Reichen ihr Geld vermehrt. Auch der Tod zahlt seine Zeche.

Neoliberale Ästhetik

High-Rise wird gerne mit einer ähnlich gelagerten Kapitalismus-Allegorie wie Bong Joon-hos Snowpiercer oder David Cronenbergs Parasitenfilm Shivers – der spielt auch in einem Hochhaus, in dem Chaos ausbricht – verglichen. Cronenberg will in seinem Horrorfilm auf einen Horror des Triebes hinaus und zersetzt sicherlich die bürgerliche Ordnung mit seinen phallusartigen Würmern, die aus den Menschen sexbesessene Monster machen. Auch in High-Rise spielt Sex eine Rolle, wird aber als vollkommen entleerte Turnübung dargeboten: Alles ist nur noch eine Form der Darbietung, der Ausweisung von Macht und Geld. Eine solche Orgie, wie sie in den oberen Stockwerken gefeiert wird, hat mit ekstatischer Lust nichts zu tun.

Die Ähnlichkeit zu Bong Joon-Hos Endzeitthriller ist da schon größer. Auch Snowpiercer behandelt die Klassengesellschaft, bleibt aber in einer eher unspezifischen Weise allgemein: Der endlos durch die Eiswüste rasende Zug wird als die einzige Möglichkeit des Überlebens gepriesen, während sich im Inneren der buchstäblich kapitalistischen, niemals stillstehenden Maschine eine Revolution anbahnt, die lediglich für neues Blut sorgen soll. Der Film ist großartig, weil er einige der immerwährenden Lügen der bestehenden Wirtschaftsordnung in packende Bilder übersetzt: Es muss immerzu weitergehen, die Räder dürfen nicht angehalten werden.

Snowpiercer denkt die ewige Bewegung des Kapitals. ©MFA

Und doch ist Snowpiercer, obwohl dauernd in Bewegung, wesentlich statischer als High-Rise. Letzterer ist ein Film der Disruption, der Richtungswechsel und der dynamischen Marktveränderungen: Im Hochhaus sehen wir die Geburt einer neuen Mittelschicht, die von nun an das Ruder übernehmen wird. Laing wird uns lange Zeit als Held präsentiert, der ob seiner aalglatten Oberfläche sowohl Zugang zur besseren Gesellschaft hat als auch mit den unteren Geschossen gut im Umgang ist.

Eine graue Maus, dieser Dr. Laing. © DCM Film Distribution

Immer im feinen grauen Anzug gekleidet (wie ohnehin die Figuren ihre Kleidung nicht wechseln, all der Schmutz und damit die Zeit im Bild bleibt) hat er auch für sein Appartement die neutrale graue Farbe ausgesucht, die sich im grauen Himmel draußen wiederholt. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen innen und außen, was man auch so verstehen kann, dass die Arbeit nun auch das Private durchziehen wird. In Zeiten von allumfassender Selbstoptimierung ein noch harmloser Vorbote unserer Zukunft.

Laing ist nicht einzuordnen und will sich selbst gar keinen Ort in der Gemeinschaft geben. Er ist ein Drifter und Flaneur, dem nichts passiert, weil er eigentlich nur am Rand teilnimmt. Genau aus dieser Mitte gebiert der Film den Teufel: Dr. Laing ist der perfekte Arbeiter der Zukunft, der sich in den Unternehmensberatungen dieser Welt mit der Disruption der Märkte befassen wird.  

Der Film geht dabei ungemein geschickt vor, zersplittert die Geschichte wie in einem Kaleidoskop, erzeugt eine Vielheit an konkurrierenden Dynamiken. Das macht es dem Publikum nicht leicht, weil es oberflächlich betrachtet wie ein wildes Durcheinander wirken muss. Dabei muss man sich nur auf Dr. Laing konzentrieren und den Zusammenbruch aus seiner Perspektive beobachten, dann fügt sich spätestens zum Ende alles zusammen. Nur die nächste Umwälzung wartet bereits – schließlich sind wir angekommen im neoliberalen Regime, in dem alles in einen Markt umgewandelt wird. Welcome to the desert of the now. 

High-Rise kann bei MUBI gestreamed werden.

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