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Im Lehrerzimmer: Auf einen Kaffee mit İlker Çatak und Johannes Duncker

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

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Interview_JohannesDuncker
İlker Çatak / Das Lehrerzimmer /Johannes Dunker

Im Fußball gibt es die schöne Rede vom neutralen Fan, für den das Ergebnis, so erschütternd es für einen Anhänger der jeweiligen Fußballmannschaft auch sein mag, eine wahre Freude sein müsse. Die Filmbranche lässt sich zwar nur schwer mit dem Geschäft um das runde Leder vergleichen, betrachtet man jedoch die Nominierungen für den Deutschen Filmpreis, kann einem diese Analogie durchaus in den Sinn kommen.

Egal für welchen Film nun das eigene Herz schlägt: allein dass mit der Netflix-Produktion Im Westen nichts Neues und dem kleinen, auf den ersten Blick unscheinbaren, kammerspielhaften Das Lehrerzimmer zwei derart unterschiedliche Filme sich als Favoriten gegenüberstehen, erzählt eine eigene Geschichte. Zumindest in Bezug auf den deutschen Film könnte es zukunftsweisend sein, wer am 12. Mai 2023 die meisten Trophäen mit nach Hause nehmen darf.

Noch warten die Lolas auf ihre Gewinner. © Anna Freitag_Deutscher Filmpreis

Gerade Edward Bergers Oscar-prämierter Kriegsfilm gilt vielen als der Sehnsuchtspunkt: großes Spektakel, das sich nach den Hollywood-Bildern streckt und das Klein-Klein des deutschen Films hinter sich lässt. Völlig konträr zu dieser Denkweise steht Ilker Çataks kleiner Film, der vielmehr nach den Bildern sucht, die sein Thema braucht. Er erzählt darin vom Kampf der jungen Lehrerin Carla (Leonie Benesch), deren pädagogischer Idealismus an der Realität der Schule förmlich zerschellt. Als Diebstähle am Gymnasium einfach nicht aufhören wollen, suchen einige Kolleg_Innen mit Nachdruck nach dem Täter, vermuten ihn – ein leider immer so selbstverständlicher Gedanke – unter den Schülern.

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Carla ist mit den Methoden, den Befragungen und suggestiven Unterstellung nicht einverstanden, kritisiert die Vorurteile und den Rassismus. Dann gibt es eindeutige Hinweise, dass die Schulsekretärin die Diebin ist. Doch führt dieser Verdacht nicht zu einer Entschärfung der Situation: Der Sohn der vom Dienst freigestellten Frau geht in Carlas Klasse und reagiert mit verzweifelter Wut auf die verwirrende Situation, der sich bald schon niemand mehr in dieser Schule entziehen kann. Die Schule als Druckkammer wird in enge, intensive Filmräume übersetzt. Hollywood mag davon weit entfernt sein. Doch entspricht dies möglicherweise dem, worauf es im Kino ankommt: Eigensinn, Vision und Empathie.

Auf der Kippe

All diese großen Überlegungen, wie entscheidend diese Preisverleihung für den deutschen Film sein könnten, spielen an diesem Samstag im April keine Rolle. Es gibt Kaffee und Kuchen im Café Hibiskus in Köln. Das Gewusel eines Samstagnachmittags umspielt das Treffen mit wunderbar geerdeter Atmosphäre, die weit weg ist von den sterilen Interviewsituationen in den Räumen einer Produktionsfirma. Am Tag zuvor wurden die Nominierungen bekannt gegeben. Die Freude ist groß. Selbstverständlich. Regisseur Ilker Çatak und sein Co-Autor Johannes Duncker bleiben dabei ganz bei sich – geerdet und dennoch voller Tatendrang.

Das Lehrerzimmer: Carla verloren in Verdächtigungen. © Alamode Film

Gerade haben die beiden Freunde eine Woche in der Eifel verbracht, wo sie an einem neuen Projekt arbeiten. So ist das im Film: Es muss immer weitererzählt werden. Heute aber soll es um den gemeinsamen Film Das Lehrerzimmer gehen. Was diese Nominierungen denn nun bedeuten würden – eine ziemlich naheliegende Frage. Doch muss man ein Gespräch eben irgendwo beginnen, zumal die Nominierungen erst am Vortag veröffentlicht wurden.

Schnell wird klar, dass es für alle vor allem eine Bestätigung für den Einsatz ist, mit dem das gesamte Team um diesen Film gekämpft hat. Es gab durchaus Momente, in denen das Projekt auf der Kippe stand. Çatak: „Wir mussten schon um den Film kämpfen. Er wäre in der Entwicklung und der Finanzierung fast gescheitert. Da mussten bestimmte Entscheidungen in der Erzählhaltung und in der Bildgestaltung gegenüber Sender und Förderung ziemlich vehement verteidigt werden.“ Wie so oft kann man über einen Film in Deutschland nur reden, wenn man auch in einen bürokratischen Apparat der Finanzierung hinabsteigt, der so vieles so unglaublich langwierig und kompliziert macht.

Da wäre im Fall von Das Lehrerzimmer etwa die Wahl des engen 4:3-Formats, der Verzicht auf eine biografische Backstory für die Hauptfigur – all die Dinge, die diesen Film nun so besonders machen, standen im Vorfeld zur Disposition. Eigentlich kaum zu glauben, weil eben daraus diese spezifische Spannung entsteht, eine konzentrierte, erzählerische Enge, aus der diese kleine Geschichte als atemloses Thriller-Drama aufsteigt.

Erzählerische Verdichtung

Für Autor Johannes Duncker war dies auch das Ziel, darauf arbeitete man hin: „Es ging ab einem gewissen Punkt um die Frage, wie wir Redundanzen vermeiden, die Geschichte zunehmend verdichten können. Denn wir wollten ja einen spannenden Film erzählen, der einen mitzieht. In jeder Szene findet indessen eine Entwicklung statt. Das erfordert beim Publikum eine Aufmerksamkeit, weil wir Entwicklungen nicht nochmal aufgreifen, um sie zu erklären.“

Autor Johannes Duncker. © Thomas Spies

In der Tat biedert sich Das Lehrerzimmer nicht an, behält sich ein Geheimnis. So begegnen wir Carla ausschließlich in ihrer Rolle als Lehrerin. Wer die Frau hinter dieser beruflichen Fassade ist, lässt sich indessen nur erahnen. Es gibt Hinweise, aber kein Auserzählen, wie es in den Serienproduktionen der Gegenwart der Fall ist: Alles wird dort ausgewalzt, das Innenleben der Figuren offengelegt und mit biografischen Versatzstücken untermauert. Das birgt immer die Gefahr, dass man das Publikum manipuliert. Für Regisseur Çatak aber ist das Kino ein Ort der Leere, „die den nötigen Raum gibt, um sich den Rest, das Nichterzählte auszumalen. Indem du die Figuren erklärst, willst du den Zuschauer manipulieren. Man merkt diese Absicht sehr schnell und ist verstimmt.“     

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Erstaunlich ist, dass Das Lehrerzimmer weitgehend ohne Metaphern auskommt, stattdessen mit einem Sozialrealismus arbeitet, der seinen Figuren so nah kommt, dass sie dadurch zum Rätsel werden. Ein Vorbild fand man in Stéphane Brizzés Der Wert des Menschen, der mit ungeheurer Präzision das soziale Labyrinth der Arbeitslosigkeit vermisst, ohne eindeutige Antworten zu geben. Aber auch ein Film wie Nader und Simin — Eine Trennung von Asghar Farhadi war in der Suche nach der Erzählhaltung enorm wichtig – „alles Geschichten, bei denen ein Funken genügt, um einen Flächenbrand auszulösen“, wie Çatak betont.

Die Aura des Lehrerzimmers

Aber hätte man diese Geschichte von Schuld und Verdächtigung nicht auch in einem anderen Kontext erzählen können? Wieso die Schule und das Lehrerzimmer als Handlungsorte? Nach Ereignissen im privaten Umfeld des kreativen Gespanns – an der Schule von Dunckers Schwester kam es zu einem ähnlichen Vorfall – war sehr schnell klar, dass man die Geschichte in der Schule ansiedelt. Für den Autor liegt der Reiz auch darin, dass vor allem das Lehrerzimmer ein immer noch geheimnisvoller Ort ist: „Das Wort Lehrerzimmer hat so eine Aura. Es ist ein Ort, wo man als Schüler keinen Zutritt hat und an dem dennoch existenzielle Entscheidungen gefällt werden, in Notenkonferenzen und dergleichen. Wenn man Glück hatte, dann durfte man mal einen Kopierauftrag abholen. Und dann ist die Schule auch ein Ort, wo die Menschen einerseits ihren Beruf ausüben und sich gleichzeitig in dieser Struktur als Individuen beweisen müssen.“

Regisseur Ilker Çatak. © Florian Mag

Über die Struktur Schule hat der Film eine ganze Menge zu erzählen: Machtverhältnisse, gesellschaftliche Stellungen und der Umgang mit limitierten Ressourcen. Doch werden diese Aspekte niemals zum vordergründigen Thema. Das Lehrerzimmer ist alles andere als ein Diskursfilm. In der Figur der Carla zeigt sich aber eine Utopie dessen, was Schule auch sein könnte. Die junge Frau kämpft um einen menschlichen Umgang mit den Schülern, will ihrer Klasse auf Augenhöhe begegnen und ist ständig mit strukturellen Hindernissen konfrontiert ist. Es sei aber, so Çatak, immer klar gewesen, dass man eine gute Figur haben möchte: „Sie ist eine Lehrerin, wie man sie selbst gerne gehabt hätte. Denn viel zu oft werden in Filmen Lehrer als Idioten dargestellt. Wir aber wollten eine Idealistin, so wie Robin Williams in Der Club der toten Dichter.“  

Über Schulpolitik wolle man allerdings, auch wenn es immer wieder angesprochen wird, nicht reden. Man sei kein Experte auf diesem Feld, habe lediglich eine Geschichte erzählen wollen, an der sich eine Diskussion entzünden kann. Das letzte Stück Kuchen verschwindet im Mund, und zu viele Tassen Kaffee wurden getrunken. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist es noch eine Weile hin, bis Das Lehrerzimmer auf den deutschen Leinwänden sein Publikum finden darf. Als Sieger aber darf sich das Team allemal fühlen: Denn egal, ob man nun als Sieger bei der Verleihung des deutschen Filmpreises hervorgeht, bereits die Nominierungen sind ein Triumph für einen der spannendsten und konzentriertesten Filme des Jahres.

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