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Jahresrückblick - Filmische Trüffel: The Nightingale

Ein Beitrag von Christian Neffe

2020 nähert sich seinem Ende. Man möchte sagen: zum Glück. Für niemanden, auch nicht für Kinofreunde, war es ein leichtes Jahr. Wir lassen es dennoch aus cineastischer Sicht Revue passieren. Heute mit Jennifer Kents „The Nightingale“.

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The Nightingale - Trailer (deutsch)

Tasmanien im frühen 19. Jahrhundert: Die aus Irland stammende Clare (Aisling Franciosi) leidet in der englischen Strafkolonie unter der Willkür-Herrschaft von Leutnant Hawkins (Sam Claflin), der sie als sein Eigentum ansieht. Er würdigt sie herab, vergewaltigt sie, will sie nicht aus seinem Dienst entlassen, obwohl Clare ihre Strafe schon längst abgearbeitet und sich damit eigentlich ihre Freiheit erarbeitet hat. Trost findet die junge Frau bei ihrem Ehemann und ihrem Baby.

Doch dieser Trost findet ein grausames Ende, als Hawkins — von Clares Ehemann düpiert und seinem Vorgesetzten in ein anderes Lager versetzt — betrunken und mit zwei Soldaten in ihrem Haus steht und ein Blutbad anrichtet. Clare verliert in dieser Nacht alles — und schwört auf Rache. Um Hawkins zu verfolgen, verpflichtet sie — aufgrund ihrer rassistischen Ressentiments anfangs nur widerwillig - den indigenen Fährtenleser Billy (Baykali Ganambarr), der sie durch die Wildnis und auf den Pfad der Vergeltung führt.

Jennifer Kent (Der Babadook) leuchtet in ihrem zweiten Film erneut psychologische (und auch körperliche) Grenzerfahrungen einer Frau aus, für die hier aber keine Hoffnung mehr besteht, sondern die bereits alles verloren hat. Im Gewand eines Rape-and-Revenge-Horrorthrillers dekonstruiert die Regisseurin und Autorin den australischen Gründungsmythos, erzählt von Gewalt, Grausamkeit, Okkupation, Genozid. Von Hass und Rassismus. Und von der Unmöglichkeit, Erlösung durch Vergeltung zu finden.

The Nightingale ist kein angenehmer Film, sondern das genaue Gegenteil: Jede der expliziten Gewaltspitzen geht durch Mark und Bein, Kent verwehrt sowohl ihrer Protagonistin als auch dem Publikum eine klassische Katharsis. Gerne möchte man diese Erzählung als reine Fiktion abtun — allerdings basiert der Film auf wahren, recherchierten und historisch fundierten Geschichten. Und noch eine wahre Geschichte: Bei der Uraufführung des Filmes in Venedig — im Spätsommer 2018, wo er der einzige Film einer Frau im Wettbewerb war -, rief beim Abspann ein Mann aus dem Publikum „Schäm dich, du Hure, du bist scheiße“ als Jennifer Kents Name auf der Leinwand auftauchte.

The Nightingale blieb ein regulärer Kinostart in Deutschland verwehrt, stattdessen wurde er im Juni auf DVD und on demand veröffentlicht. Der Film ist bei allen gängigen VoD-Anbietern zur Leihe und zum Kauf verfügbar.

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