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Unwind your Mind: Netflix, Headspace und die Magie der Animation

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Meditieren? Mach ich auf Netflix. Die Entspannungs-App „Headspace“ will unsere Auszeiten revolutionieren und vermischt dazu Serie, Animation und Spiel zu einer interactive experience.

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„Wann haben Sie zum letzten Mal nichts getan?“, fragt eine freundliche Stimme, und ich verdrehe die Augen. Im vergangenen Januar lacht mir in den Empfehlungen auf Netflix plötzlich eine kugelige Sonne entgegen. Der dazugehörige Titel: Headspace Guide to Meditation. Kurz darauf folgt der Guide to Sleep. Der erste Klick befördert mich in eine Welt warmer Farben, fließender Formen, beruhigender Klänge. Pro Episode erläutert die freundliche Stimme in etwa zehn Minuten in einem kurzweiligen Mix aus persönlichen Anekdoten, wissenschaftlichen und kulturhistorischen Exkursen — visuell originell umgesetzt — die Theorie hinter verschiedenen meditativen Techniken. Danach folgt eine geführte Meditation. Als ich es das erste Mal ausprobiere, stellt sich eine merkwürdige Aufregung ein. Womöglich der Reiz des Neuen, vielleicht auch der existenzielle Abgrund, in den man schaut, wenn man plötzlich dem eigenen Herz beim Schlagen zuhört. Aber immer, wenn ich es in den folgenden Tagen wieder versuche, bin ich spätestens bei den Credits verlässlich eingeschlafen.

Vor kurzem erschien das inzwischen dritte und vorerst finale Headspace-Format auf Netflix: Unwind Your Mind, diesmal interaktiv und noch praktischer aufbereitet. Über Schaltflächen kann der Nutzer anwählen, wie er sich fühlt und wie viel Zeit ihm zur Verfügung steht, und wird von Netflix zur jeweils passenden Meditationsübung weitergeleitet.

 

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Stellen Sie sich vor, Sie tragen einen Neoprenanzug, an dem alle negativen Einflüsse abrutschen… Imaginieren Sie eine Truhe, in der sie im Alltag alle bedrückenden Erinnerungen wegschließen… Viele Therapieansätze arbeiten mit dem Konzept der Visualisierung. Da erscheint der Animationsfilm mit seinen unendlichen Möglichkeiten prädestiniert als therapeutisches Genre per se. Aber die meditation guides auf Netflix sind noch viel mehr: Animation und Aufklärungsvideo, dokumentarisches Format und Spiel, Serie, Service, Musikvideo, Experimentalfilm, Slow TV, alles ein bisschen und nichts so richtig. Selbst Netflix musste eine neue Gattung für Unwind Your Mind finden und beschreibt das Format schlicht als interactive experience.

 

Buddhismus-Häppchen mit Massen-Appeal

„Im besten Fall werden die Leute die Augen schließen und sich deine Animation nicht anschauen“, lautete einer der Grundsätze für die Animationskünstler hinter den Headspace-Serien. Für den Inhalt eines Streaming-Dienstes, der es eigentlich per Definition darauf anlegt, dass wir immer weiterschauen, klingt das ziemlich revolutionär. Aber Headspace als Antithese zu den großen Binge-Watching-Orgien unserer Zeit? Je tiefer man in die Materie eintaucht, desto lauter melden sich Zweifel.

 

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Alles auf Anfang: Wir schreiben das Jahr 2010. Der ausgebrannte Werbefachmann Richard Pierson trifft in einer Londoner Klinik auf Andy Puddicombe, einen ehemaligen buddhistischen Mönch, der seit ein paar Jahren Meditation für gestresste Westler lehrt. Die beiden werden Geschäftspartner und gründen eine neue Firma, Headspace, die Achtsamkeits-Workshops in London veranstaltet. 2012 launcht die erste Version ihrer App: Ein Online-Dienst, der seinen Abonnenten geführte Meditationen anbietet. Glatt designte Buddhismus-Häppchen mit Massenappeal. Die Zugriffszahlen steigen stetig, doch der ganz große Hype bricht 2016 los: Nach Donald J. Trumps Wahlerfolg verzeichnet Headspace einen 44-prozentigen Anstieg bei den Abrufen seiner sogenannten SOS-Meditation.

 

Entspannung im Zeichen des orangenen Kreises

Seither tun die politische Weltlage, das Klima und eine globale Pandemie ihr Übriges. Das Headspace-Logo, ein Kreis in sattem Orange, ist inzwischen überall zu sehen: In der Running-App von Nike bietet Headspace geführte Läufe an, Musiker wie Erykah Badu, Arcade Fire oder der Filmkomponist Hans Zimmer veröffentlichen exklusive Ambientmusik und Playlists — und nun eben Netflix.

 

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Die Idee medial angeleiteter Entspannung ist beileibe nicht neu. Was früher die Videokassette mit acht Stunden Kaminfeuer, die Sendung mit den schönsten Bahnstrecken Europas oder eben Bob Ross war, ist heute das hinreichend professionalisierte YouTube-Phänomen ASMR. Und nicht selten sind es weniger die teuer produzierten Originals, die auf den Streaming-Diensten die ganz großen Einschaltquoten bringen, als vielmehr die alten Favoriten. Die Leute schalten zum x-ten Mal Friends und Gilmore Girls als Hintergrundberieselung ein, damit verbunden wohlige Kindheits- und Jugenderinnerungen: Comfort TV. Dazu kommen die direkten Konkurrenten von Headspace: Die Meditations-App Calm brachte 2020 eine glossy produzierte Serie namens A World of Calm auf HBO Max an den Start, in der mit sanften Stimmen gesegnete Stars wie Kate Winslet, Idris Elba oder Zoë Kravitz aus dem Off über Korallenriffe sprechen, über Holz oder die Herstellung von Nudeln. Disney+ hat Earth Moods im Programm, eine Abfolge abstrakter Landschaftsaufnahmen, die verdächtig an Bildschirmschoner erinnern. Oder Zenimation, eine Anthologieserie, deren Episoden aus kurzen Schnipseln der Disney-Animationsfilme montiert sind, nur ohne die Dialoge.

 

Das Problem mit Headspace, explained in a minute

Allein dies ist im Grunde schon ein Paradox: Dass die Bildschirme, auf die wir den lieben langen Tag für die Arbeit starren, die uns durch endloses Scrollen vom Schlafen und Bücherlesen abhalten und im vergangenen Jahr beinahe unsere letzte verbliebene Möglichkeit für ein funktionierendes Sozialleben waren, jetzt auch noch für unsere Auszeiten sorgen sollen. Es gibt genügend Studien, die auf die negativen Auswirkungen hinweisen, die das blaue Licht der Monitore auf unsere Schlafqualität hat. Und das ist noch das geringste Problem.

„Das Problem, das ich mit Headspace habe, ist die Art und Weise, wie sie ihre Inhalte vermarkten, um gefährdete Bevölkerungsgruppen anzusprechen,“ erklärt Psychologieprofessor Zindel Segal in der New York Times. „Sie haben keine Studien, die in diesem Bereich ihre Behauptungen stützen, aber ihr Geschäftsmodell erfordert eine konstant wachsende Nutzerzahl.“ In den meisten Fällen dürfte weder eine kommerzielle Meditations-App noch ein entsprechender Streaming-Ableger ausreichen, um schwere Depressionen oder gar suizidale Tendenzen zu behandeln. Vielmehr scheinen sich Headspace, Calm und Co. in den Reigen hypererfolgreicher Apps einzureihen, die primär dazu da sind, den Alltag der globalen Elite zu erleichtern: Essen zu jeder Tages- und Nachtzeit direkt an die Haustür bestellen, 24 Stunden verfügbare Fahrdienste. Statt kollektive Lösungen für gesellschaftliche Baustellen zu suchen, arbeitet jeder einzeln an seiner Toleranzschwelle — ganz im Dienste der Produktivität. Zunehmend finanzieren auch Firmen vor allem in englischsprachigen Ländern ihren Angestellten das Headspace-Abo. Ausgeruhte Mitarbeiter: unbezahlbar.

 

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Nicht zuletzt kommt dazu das Problem mit den Daten: Surveillance capitalism lautet der Begriff der Harvard-Professorin Shoshana Zuboff, der beschreibt, wie mit technischen Mitteln persönliche Daten abgeschöpft und analysiert werden, um daraus Verhaltensvorhersagen zu generieren und letzten Endes Gewinn zu erwirtschaften. Von genau diesen Daten profitieren ein Streaming-Service wie Netflix und die vielen Content-Croduzenten in seinem Fahrwasser. Etwa Vox Media Studios, das Medienhaus hinter den Headspace-Serien.

2002 als Sport-Blog gegründet, entwickelte sich Vox Media schnell zu einem nischenübergreifenden Mediennetzwerk, das heute Marken wie die Tech-Website The Verge, die Gaming-Plattform Polygon oder das New York Magazine verwaltet. Schon 2016 verlegte das Unternehmen seinen Schwerpunkt auf Video-Content, im Kern super kompakten Erklärjournalismus. Einer seiner maßgeblichsten viralen Erfolge: Der Clip The Rise of ISIS, explained in 6 minutes. Seit 2018 zeichnet Vox Media auch für die Netflix-Serie Explained verantwortlich.

 

Das subversive Potential der Animation

Um den Headspace-Deal zu realisieren, heuerte das Unternehmen gleich vier hippe Animationsschmieden an, die zuvor unter anderem an der Netflix-Serie Love, Death and Robots gearbeitet hatten. „Insgesamt kann ich es ehrlich nicht mit irgendetwas vergleichen, das ich vorher in meiner Karriere gemacht hatte,“ staunt einer der Animationskünstler im Interview mit It’s Nice That. Manche der Anforderungen an den Guide to Meditation und Guide to Sleep erklären sich gewissermaßen von selbst. Etwa dass die Bilder immer wieder auf das Headspace-Logo zurückkommen sollten. Mal taucht der orangene Kreis als Sonne auf, im Zentrum des Bildschirms von sanftem Grau umwölkt. Dann als Ballon, der parallel zum idealen Atemrhythmus an- und abschwillt. Schließlich rollt sich ein orangener Faden entlang einer unsichtbaren Kugel ab, füllt sie nach und nach aus, bis man am Ende der Meditation die Augen öffnet und der Blick abermals auf den orangenen Kreis fällt. Das ist schon beinahe Konditionierung.

 

Headspace Logo (c) Netflix

 

Außerdem sollten die visuellen Metaphern universell verständlich sein — quer durch Kulturen und Altersklassen hinweg. So erklärt es sich auch, dass die Animatoren immer wieder auf Tier- und Naturmotive zurückgreifen: ein Marienkäfer, der seine Punkte verliert, während Andy Puddicombe aus dem Off darüber spricht, wie er seine Prägung hinter sich ließ, als er ins Kloster ging. Ein Fluss, auf dessen Oberfläche Blätter treiben.

Aber die wahre Herausforderung lag in der Abstraktion: Keine Menschen zeigen, keine zu invasiven Emotionen triggern, nichts zu wörtlich nehmen. „Die meisten von uns haben vorher einen Haufen Werbeclips gemacht, in denen jede Sekunde dazu genutzt wird, zu stimulieren oder zu verführen,“ erklärt Art Director Drew Takahashi. „In diesem Fall mussten wir unser Medium aber anders benutzen. Das Team hat sich mit alten Mediengewohnheiten zurückgehalten und Ruhe gesucht.“ Und Hannah Jacobs vom Animationsstudio Strange Beast ergänzt: „Wir mussten unsere Ideen oft total zurückschrauben. In dieser Hinsicht war es wirklich ein seltsamer kreativer Prozess, denn normalerweise ist es unser Job, etwas visuell so ambitioniert und unterhaltsam wie möglich zu gestalten.“

 

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Das scheint mir das eigentlich Außergewöhnliche: dass das Team eines kommerziell vielversprechenden Serienformats mit den gängigen Mitteln der Werbung an seine Grenzen stößt und stattdessen wieder wo herauskommt? Eben: beim Animationsfilm. Spezifischer noch: bei der Avantgarde! Sich rhythmisch aufblasende Ballons und abstrakte Silhouetten — beinahe wie in den Animationsfilmen der Weimarer Republik, die Künstler wie Walter Ruttmann oder Hans Richter den „Absoluten Film“ nannten. Von der Natur inspirierte Farben und Formen, die in einem steten Fluss begriffen ineinander übergehen und dabei wie aus sich selbst heraus ständig neue Gebilde hervorbringen. Genau wie in Sohn der weißen Stute, dem 1981er Meisterwerk des kürzlich verstorbenen ungarischen Zeichentrickpioniers Marcell Jankovics. Linien, die sich wie von Zauberhand in Bewegung setzen und nichts als die vergehende Zeit selbst darzustellen scheinen wie im bis heute unerreichten 1973er Anime Die Tragödie der Belladonna von Eiichi Yamamoto. Filme, die zunächst alles andere als Kassenschlager waren und dennoch überdauerten. Deren Liebhaber sich über Jahrzehnte hinweg auf ihre visionäre Kraft, ihr kontemplatives Potential einigen können. So betrachtet haben die Headspace-Serien schon fast etwas Subversives. Vielleicht sollten wir sie einfach schauen — und dabei die Augen weit offen lassen.

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