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Nachflimmern: Fear X

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

In seiner radikalen Rätselhaftigkeit verstört dieser gern übersehene Thriller von Nicolas Winding Refn bis heute. Ein empathisches Nachflimmern zu diesem flirrenden Angstbild von einem Film ist daher dringend nötig.

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Fear X Nachflimmern

Jede Woche erscheinen auf den bekannten Streaming-Plattformen Unmengen von Filmen. Wir können uns vor Geschichten, Filmen und Serien, ja vor Bildern gar nicht mehr retten. Doch wenngleich es so scheint, als wäre alles nur einen Klick entfernt, gibt es am Rande dieser Masse immer noch Filme, die kurz vor dem Vergessen stehen und dabei so schön hell und verlockend flimmern. Manche sind überhaupt nicht im Strom des Streams zu finden. Andere, wie eben „Fear X“, sind immer noch in gewisser Weise verstoßen. Das Scheitern an den Kinokassen beim Release 2003 hallt bis heute nach; und dann hat der Film auch kein Ende und flirrt und stolpert im Rätselhaften herum. Der Versuch einer Huldigung.

Ein Film wie ein Abgrund

Dieser Film hätte gut und gerne das Ende einer Karriere bedeuten können. Nach dem Box-Office-Desaster von Fear X war Nicoals Winding Refn, der den Film mit seiner damaligen Produktionsfirma Jang Go Star selbst gestemmt hat, bankrott. Nach Pusher und Bleeder sollte Fear X der große Aufschlag in den USA werden. Doch Refn entschied sich, den direkten und rohen Stil seiner dänischen Arbeiten hinter sich zu lassen, um sich jenem Kino der Überstilisierung anzunähern, für das er heute steht. Filme von NWR sind neonfarbene Gemälde aus Gewalt und unbedingtem Stilwillen. Zur absoluten Perfektion hat sich diese Mischung in der Amazon-Serie Too Old To Die Young gebracht, die in ihrer Langsamkeit alles von den Zuschauer*Innen abverlangt, sie aber auch mit unerwarteten Bildern beschenkt.

In seiner fast schon bewegungslosen Trauerarbeit, die von Paranoia durchtrieben wird, und vor allem in seiner radikalen Verweigerung, seinen Plot und seine Bilder zu erklären, ist auch Fear X bis heute eine Herausforderung. Eigentlich war Refn bereits 2003 auf dem besten Weg, seinen Eigensinn als Filmform zu etablieren. Doch die Zeit war noch nicht reif, der Film floppte. Um den sich daraus ergebenden Schuldenberg abzutragen, musste der dänische Regisseur – obwohl er dazu keine Lust hatte – zwei Fortsetzungen zu Pusher drehen, die wahrlich fulminant geworden sind. Doch erst 2011 sollte der große Cannes-Triumph Drive den Filmemacher in die weihevollen Höhen der Filmgeschichte katapultieren. Doch man darf sich nicht täuschen lassen: Refn hat sich nicht angepasst. Weder Only God Forgives noch The Neon Demon stießen auf große Publikumsliebe. Schlägt sich hier der Bogen zurück zu Fear X?

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Style is Substance 

Style over Substance. Dies ist eine gerne vorgebrachte Kritik an Filmemacher*Innen, die sich einer sehr dominanten Form bedienen und klassische Dramaturgie eher umgehen. Sie trifft Regisseure wie Gaspar Noé, Lars von Trier oder Robert Eggers. Auch Refn gehört in diese Liste. Eine Substanz wird einem Film nur dann attestiert, wenn er seinen Sinn in seiner buchstäblichen Erzählung zum Ausdruck bringt. Wovon erzählt ein Film? Das ist für viele die entscheidende Frage. Es braucht einen Inhalt, der in Form einer klassischen Dramaturgie geführt wird. Nur dann ergibt es Sinn, denn auf irgendeine Weise müssen die Figuren ihr Handeln ja erklären. Dann also erzählt ein Film.

Dabei ist das Kino doch mehr als Erzählung; es lebt von Bildern. Die entscheidende Frage ist, wie kann das, was wir eigentlich nicht sehen können, sichtbar gemacht werden und in dieser Sichtbarkeit fühlbar werden. Manchmal ist es nicht so wichtig, was ein Film erzählt. Es ist viel wichtiger, was er auf welche Art und Weise zeigt. Fear X gehört in diese Kategorie Kino. Komponiert aus atmosphärischen Bildern, in die man hinabtauchen kann, darf man nicht auf eine Geschichte hoffen, die sich von selbst erzählt.

Innen und Außen überblenden sich. © Tiberius/Sunfilm Entertainment

Wie so häufig bei Filmen sind vor allem die ersten Einstellungen von zentraler Bedeutung: In ihnen wird die Welt oder das Thema etabliert. Bei Fear X sehen wir zunächst einen Vorhang, der den Blick durch das Fenster verhindert. Dann greift eine Hand ins Bild und legt eine Hälfte des Fensters frei. Wir sehen einen verschneiten Vorgarten in einer amerikanischen Kleinstadt, eine Straße und das Haus der Nachbarn gegenüber. Ein banales, ja alltägliches Bild. Dann wird die andere Hälfte des Vorgangs zurückgezogen. Plötzlich verändert sich das Bild, es macht einen Sprung in die Bedrohlichkeit. Eine Frau steht da, etwas verloren. Ein Umschnitt zeigt das Gesicht, das zu den Händen gehört. Ein Mann, auf dessen Gesicht sich das Draußen spiegelt.

Von Anfang an ist die Trennung zwischen Innen und Außen aufgehoben. Bilder und ihre Bedeutung werden in diesem Film langsam konstruiert und wieder auseinandergenommen. Die Wahrnehmung der Figuren wird in diesem Film immer neu zusammensetzt. Die Kamera offenbart, dass es sich bei dieser ersten Szene um einen wiederkehrenden Traum handelt. Aber nehmen wir nicht oftmals die Stimmung aus unseren Träumen mit in den Tag? Was lässt uns diese Gestimmtheit, die in den Tag hineinragt, dieses Gefühl sehen? Das zeigt uns Refn hier, ohne dabei alles auf den narrativen Tisch zu legen. Alles in diesen Film ist ein Bildwerden durch Unschärfen, ein Irrgarten aus möglichen Verknüpfungen und gespenstischen Ahnungen.

Von einer leeren Frage

Aber selbstverständlich hat auch Fear X einen grundlegenden Plot. Harry Caine (John Turturro) hat seine Frau und das ungeborene Kind verloren. In der Tiefgarage des Einkaufzentrums, in dem er als Security arbeitet, wurde sie von einem Unbekannten erschossen. Der Tod der geliebten Partnerin reißt den stillen Mann in eine tiefe Trauer hinein, die sich zu einer manischen Suche nach dem Täter auswächst. Jeden Abend studiert er die Aufnahmen der Sicherheitskameras, notiert sich Verdächtige und pinnt Karteikarten an die Wand – ein Spiegellabyrinth aus möglichen Spuren, offenen Enden und Ahnungen droht in einem Scherbenhaufen aus Paranoia und Zweifel zu zerbersten. Was wusste Harry eigentlich von seiner Frau? Hat er in der Vergangenheit einen Fehler gemacht, der vom Schicksal nun bestraft wird? Und wer wohnt eigentlich in dem Haus gegenüber? Wer lange genug sucht, wird immer auf etwas stoßen und womöglich Gespenster sehen. Durch einen Zufall – ist es das, ein Zufall? – kommt Harry dem Mörder seiner Frau, ohne es zu ahnen, sehr nah.

Diese Nähe, die sich im letzten Drittel des Films in einer bedrückend langen Szene in einem Hotelzimmer ergibt, ist gnadenlos ambivalent: Harry trifft dort den Mörder seiner Frau. Noch weiß er das allerdings nicht. Er hofft, von Peter (James Remar) einen Hinweis auf eine Person zu erhalten. Wie sich diese beiden Männer in ihren Sätzen langsam vorantasten, wie als hätten sie Angst auch nur ein Wort zu viel zu sagen und eine Art Geständnis abzugehen, ist eine Studie über Schuld und Wahnsinn: Für beide Männer ergibt ihre Welt keinen Sinn mehr. Peter hat einen unschuldigen Menschen getötet und Harry sein ganzes Leben verloren – und es gibt keine Antwort auf das Warum. Es handelt sich um eine leere Frage und das ist womöglich diese ominöse Angst X.

Alles ist schon da 

Die harsche Kritik an Fear X ist ziemlich erstaunlich. Gerade wenn man bedenkt, dass andere Filme aus dieser Zeit ebenso rätselhafte Wege gegangen sind. Der Maschinist von Brad Anderson ist nicht weniger geheimnisvoll, spielt aber von Anfang an eine kafkaeske Grundstimmung aus und am Ende haben ohnehin nur alle vom abgemagerten Christian Bale gesprochen. Und Memento von Christopher Nolan erzählt ebenso von Trauma und manischer Erinnerung, funktioniert aber in einem deutlich abgesteckten Rahmen, der seine erzählerische Funktion mitliefert: Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses ist der dramaturgische Boden.

All das liefert Fear X nicht. Refn zieht die Zuschauer*innen in die Ambivalenz, zwingt uns dazu, den in sich gekehrten Wahnsinn von Harry Kane zu durchleben und erzählt, ohne die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit klarzumachen. Warum Harry am Ende Peter findet? Es kann reiner Zufall sein, der durch die Manie seine eigene Notwendigkeit erhält. Vielleicht ist es aber auch Schicksal. Diese Offenheit und vor allem die Bilder, die Refn dafür findet, sind großartig, hypnotisch und unheimlich meditativ. 

Schlaflose Einsamkeit. ©Tiberius / Sunfilm Entertainment

Natürlich steckt in der Bildgestaltung, gerade im letzten Drittel, wenn wir uns in diesem Hotel befinden, ganz viel David Lynch. Auch Elemente einer strengen Kadrierung, wie wir sie bei Kubrick sehen, sind in diesem Film präsent. Vor allem aber erkennen wir Motive, die in späteren Refn-Filmen exzessiv ausgelebt werden: Der Fahrstuhl als Metapher für die unterschiedlichen Ebenen, die als Möglichkeit in einem engen Raum zusammenkommen, wird auch in Drive auftauchen. Die Faust, die hier noch zu John Turturro gehört, wird Ryan Gosling in Only God Forgives immer und immer wieder ballen. Und diese langsamen Zooms werden ohnehin zum Markenzeichen des Dänen, die schließlich in Too Old To Die Young eine wunderschöne Ewigkeit dauern dürfen. All das sind Fetische. Aber haben nicht die besten Regisseur*Innen alle ihre Fetische, denen wir uns gerne ausliefern? Wenn sie so wie in Fear X erfilmt sind – auf jeden Fall.  

Wer noch tiefer in Fear X eintauchen will: Auf dieser Seite gibt es eine sehr aufschlussreiche Deutung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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