zurück zur Übersicht
Specials

Nachflimmern: Die Liebenden

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

„Die Liebenden“ erzählt – oh welch’ große Überraschung – von der Liebe. Das tut der Film auf eine derart geerdete Art und Weise, dass die romantischen Restriktionen über Bord gehen und Möglichkeiten des Begehrens aufscheinen. 

Meinungen
Die Liebenden

Jede Woche erscheinen auf den bekannten Streaming-Plattformen Unmengen von Filmen. Wir können uns vor Geschichten, Filmen und Serien, ja vor Bildern gar nicht mehr retten. Doch wenngleich es so scheint, als wäre alles nur einen Klick entfernt, gibt es am Rande dieser Masse immer noch Filme, die kurz vor dem Vergessen stehen und dabei so schön hell und verlockend flimmern. Manche sind überhaupt nicht im Strom des Streams zu finden. Andere, wie eben „Die Liebenden“ / „The Lovers“ hat fast niemand auf den Zettel. Der Titel macht es einem auch nicht leicht, denn bis man diese wundervolle A24-Produktion überhaupt findet, hat man sich mindestens dreimal verlaufen. Ein Blick auf einen ziemlich jungen Film, der ganz warm nachflimmert – versprochen.

Es gibt ja den großen Irrglauben, dass Filmkritiker_Innen oder Filmjournalist_Innen alles gesehen haben (müssen). Die Filmgeschichte ist derart labyrinthisch und von manchen Filmen, gerade wenn sie nicht der westlichen Kinotradition entsprungen sind, hat man womöglich noch nie etwas gehört. Hin und wieder passiert es dann, dass man bei der Recherche zu einem Thema über eine Perle stolpert, die nun wirklich auf dem Silbertablett vor einem gelegen haben muss: Die Liebenden/The Lovers ist ein solcher Film. Im Rahmen des Kinostarts von Meine Stunden mit Leo, in dem Emma Thompson eine sexuell frustrierte, pensionierte Lehrerin spielt und die mit einem Sexworker nun Verpasstes nachholen möchte, suchte ich nach Filmen, in denen Sex im Alter eine Rolle spielt: Da war der Film plötzlich. A24. Also gar nicht so klein, gar nicht so abwegig. Andererseits gehen viele Filme des Wunderstudios gerade außerhalb der USA unter. Doch darum soll es an dieser Stelle gar nicht gehen. Vielmehr möchte ich mir die Zeit nehmen, die Magie dieses Films ein wenig zu erklären.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Die Liebenden/The Lovers erzählt die Geschichte von Michael (Tracy Letts) und auch Mary (Debra Winger), deren Beziehung schon eine ganze Weile nur noch stottert. Von der einstigen Liebe scheinen nur noch Alltag, Verpflichtung und Routine übrig. Der Sohn ist aus dem Haus und studiert und die wichtigsten Lebensentscheidungen sind gefallen. Da könnte man doch noch mal neu beginnen, oder? Die Affären, die beide pflegen, sind zu festen Beziehungen geworden, zu Auswegen aus der Krise. Nun werden diese neuen Partner langsam ungeduldig: Michael und Mary sollen sich nun endlich entscheiden. Dann, als diese Entscheidung fast schon ausgesprochen ist, beginnt es zwischen den Ehepartner wieder zu knistern; die Ehe, dieses alte ausgediente Fahrrad, rauscht mit sexuellem Tempo um die Ecke und wird – es ist eben vertrackt – nun zu einer Auszeit von den Affären. Wie geht man damit nun um? Was ist diese Liebe überhaupt? Und warum begehrt man eigentlich immer das, was man gerade nicht hat?

Dieser Plot liest sich in der Tat wie die nächste x-beliebige romantische Komödie über Menschen, die sich im Alter noch mal verlieben (dürfen). Doch sollte man sich ohnehin von Plots niemals täuschen lassen. Beim Film geht es eigentlich gar nicht so sehr um das Erzählen von Geschichten, auch wenn darüber eine seltsame Einigkeit herrscht. Eigentlich geht es um die Form, das heißt, es geht die Art und Weise, wie diese narrativen Elemente (hier: Liebe, Ehe, Sex und Affäre) angeordnet und auf die Leinwand montiert werden. Das macht Azazel Jacobs Film zu einem kleinen Wunder, weil er durch seine filmischen Bilder, die aus Bewegung, Farbe und Ton bestehen, so viel über Begehren im Herbst des Lebens und über die Liebeskomödie selbst erzählt. 

© A24

Da wäre die Sache mit der Musik: Beinahe durchgängig läuft in diesem Film ein aufdringlicher, sehr klassischer und durchaus kitschiger Score. Bei einem anderen Film könnte man sich womöglich daran stören. Hier aber ist diese Diskrepanz mitunter so deutlich, dass man diese Aufdringlichkeit als ästhetische Entscheidung ernst nehmen muss: Die romantische Musik ist eine präsente Spur, die auf die Erwartungshaltung abzielt. Die Liebe und ihre Affären, ihre Lüste und bittersüßen Sehnsüchte sind immer kulturell aufgeladen: Was wir erwarten, wie wir uns das vorstellen — unsere Wünsche und Hoffnungen reisen durch Filmbilder, Romane und Musiken hindurch. Alles ist groß, von Gewicht und – spitzen wir es zu – rosarot. All das schiebt Jacobs auf die Tonspur. In den Bildern bleibt die Arbeit zurück, der Alltag und das oftmals Ungelenke.

Wenn Michael seine Affäre Lucy (Melora Walters) aus einer Tanzstunde holt, kokettiert sie damit, dass sie doch ungeduscht sei. Dies mag eine Kleinigkeit sein, ist aber eben jener Alltag, in dem Menschen riechen, schwitzen und nicht der perfekten Ordnung fiktiver Erotik entsprechen. Die Liebenden ist wegen der unspektakulären Inszenierung dieser kleinen Dinge so besonders. Mary schläft ein, wenn ihr Autoren-Freund aus seinem neuen Manuskript vorliest. Wir stolpern und schleichen, sind mehr in unseren Peinlichkeiten anmutig als in unserer Anmut den Dingen erhaben. Dieser Film zeigt uns, dass das Begehren da ist und unbeholfen ohne Alter ist. Manchmal ist es betäubt durch die sozialen Institutionen, wie die Ehe eine ist. Als diese eigentlich schon aufgelöst ist, beginnt es zwischen Michael und Mary wieder zu lodern, was die Ehe am Ende auch nicht rettet.

© A24


Die Liebenden zelebriert eine verstohlene Offenheit. Moralisch mag das fragwürdig sein, denn letztlich hintergeht jeder hier jeden. In seiner bodenständigen Ruhe überzeichnet der Film keine diese Bosheiten, Lügen und menschlichen Fehler in eine Hysterie, wie sie der Serie Girls zu eigen war. Wenn Marys Liebhaber Robert (Aidan Gillen) plötzlich im Supermarkt auftaucht und Michael an der Fleischtheke vor dem Ende seiner Ehe warnt, dann ist das natürlich ganz und gar nicht nett. Doch kann man mitfühlen, auch weil jede dieser Beziehungen, die in diesem Film gezeigt werden (auch der Sohn reist mit seiner Freundin an) eine andere Dynamik entfaltet und Mary und Michael sich jeweils anders verhalten. Die Menschen, die wir lieben, verändern uns, lassen andere Facetten unsere Persönlichkeiten aufscheinen. So ist Die Liebenden nicht ein Film über ein Paar, sondern viele kleine Filme über viele Beziehungen und Berührungen.    

Meinungen