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Jahresrückblick 2022: Kannibalen und toxische Männer

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Das Kinojahr 2022 neigt sich dem Ende entgegen. Die Kino-Zeit-Redaktion blickt zurück. Im ersten Teil schreibt Sebastian Seidler über die Filme, die bei ihm in den vergangenen Monaten am meisten Eindruck hinterlassen haben.

Meinungen
Rückblick_Sebastian2022
Vortex / Men / Bones and All

Zumindest im Kino war dieses Jahr ein gutes Jahr. Über all den Rest, den fürchterlichen Krieg und diese verwirrenden Krisen der Gegenwart kann man aber kaum hinwegsehen. Dennoch konnte ich Filme sehen, die mich mit ihrer beeindruckenden Form, ihrer subversiven Freude und ihrer abgründigen Traurigkeit begeistern konnten. Was war nun der beste Film des Jahres? Das ist immer so eine Frage, die man aus unterschiedlichen Perspektiven beantworten kann.

Formal gesehen hat mich Vortex von Gaspar Noé wohl am meisten beeindruckt. Der Splitscreen ist mit so viel Zärtlichkeit in die Leinwand gebrannt, dass einen das Nichts des Vergessens förmlich anspringt. Zudem durfte ich ein Interview mit dem französischen Filmemacher führen, was mein absolutes Highlight war: Keine Spur von Enfant Terrible! Noé ist ein reflektierter, enorm zugänglicher Mensch, der eine künstlerische Vision hat. Mit der kann man ja durchaus hadern; respektieren sollte man sie aber auf jeden Fall.

Aus einer politischen Perspektive muss ich definitiv She Said von Maria Schrader hervorheben, der es gelungen ist, einen Film über das System Weinstein zu drehen, ohne dem Monster zu viel Raum zu geben. Und wenn es um die Monster der Männlichkeit geht, dann sind Men und Medusa wohl das Salz in der Wunde. Verliebt habe ich mich in die Liebe in Paul Thomas Andersons Licorice Pizza, bei dem mich dieses Lebensgefühl förmlich mitgerissen hat, sodass ich am Ende der Geschichte gleich wieder zurück auf Anfang wollte. Da war sie wieder, die Magie des Kinos, das Kribbeln im Bauch, die Sehnsucht nach fiktiven Welten. Nur die Serienwelt wollte mich auch dieses Jahr nicht haben. Tokyo Vice war toll. Okay. Aber nein: Aus mir wird kein Serienmensch mehr.

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Doch was war mein Film des Jahres? Nun, mein Herz gehört dieses Jahr Bones and All von Luca Guadagnino. Bereits während des Abspanns war mir klar, dass ich gerade meinen Film des Jahres gesehen hatte: Die Allegorie des Kannibalismus wird hier auf so brutale wie zärtliche Weise von der Sexualität entkoppelt. Der Kannibale ist der absolute Außenseiter, der sich nicht nur vor den „normalen“ Menschen verstecken muss, sondern sich auch noch vor Seinesgleichen hüten muss. Die Chemie zwischen Timothée Chalamet, dem die Rolle des verletzlich-wütenden Rebellen auf den Leib geschrieben ist, und Taylor Russell ist enorm, und Luca Guadagnino setzt durch seine fulminante Regie eine Atmosphäre, die zwischen romantischer Sehnsucht und bedrohlichem Todestaumel oszilliert. Außerdem habe ich schon lange nicht mehr ein solch unberechenbar Böses erleben dürfen wie Sully, dem Mark Rylance eine schizoide Verletzlichkeit verleiht.

Bones and All regt mich zu Nachdenken an, weil es auch um das Verhältnis zwischen den Generationen geht – die älteren Kannibalen ihre Kinder oftmals fressen. Was, wenn dieser unbeherrschte Kannibalismus nicht für unsere Gier steht? Wir konsumieren und fressen und verleiben uns ein, bis der Planet untergeht. Der Philosoph Michel Serres hat in seinem bereits 1980 geschriebenen Buch Der Parasit, bereits vom Menschen als den schlimmsten Ausbeuter von allen gesprochen. In Guadagninos Film erzeugt der parasitäre Kannibale eine Einsamkeit, weil er sich am Gesellschaftskörper labt und deshalb auch davon ausgeschlossen wird. Taylor Russel und Timothée Chalamet ringen auf ihrer Reise mit einem ethisch richtigen Umgang mit ihrem Begehren. Erneut hat mir dieses Kinojahr bestätigt, dass sich die politischen Fragen in den unwahrscheinlichsten Filmen aufspüren lassen. 

Sebastians Top 10 des Jahres:

10. She Said
9. Licorice Pizza
8. Men
7. Der schlimmste Mensch der Welt
6. The Menu
5. Earwig
4. Come on, Come on
3. Medusa
2. Vortex
1. Bones and All

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