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Specials

Erzählung trifft Spiel: Zur Geschichte des interaktiven Films

Ein Beitrag von Christian Neffe

Seit dem 5. August haben Netflix-Abonnent*innen die Möglichkeit, über das Schicksal von Kimmy Schmidt (Ellie Kemper) mitzubestimmen — zu diesem Anlass schauen wir zurück auf die Geschichte des interaktiven Films.

Meinungen
Interaktive Filme: Kimmy Schmidt vs. The Reverend / Bandersnatch / Phantasmagoria
Interaktive Filme: Kimmy Schmidt vs. The Reverend / Bandersnatch / Phantasmagoria

Seit dem 5. August haben Netflix-Abonnent*innen die Möglichkeit, über das Schicksal von Kimmy Schmidt (Ellie Kemper) mitzubestimmen: In „Kimmy Schmidt vs. The Reverend“, einem interaktiven Special zur (sehr empfehlenswerten) Comedy-Serie „Unbreakable Kimmy Schmidt“ über eine junge Frau, die von einem vorgeblichen Propheten jahrzehntelang in einem Bunker gefangen gehalten wurde und nun wieder in New York Fuß fassen will, kann das Publikum über den Verlauf von Kimmys Hochzeit entscheiden — und ihre mögliche Rache am Reverend (Jon Hamm).

Netflix setzt damit eine Versuchsreihe fort, die zuletzt Ende 2018 für Aufsehen sorgte: das Experimentieren mit interaktiven Formaten, bei denen das Publikum nicht nur passiv zuschaut, sondern aktiv in die Dramaturgie eingebunden wird. Damals sprach die halbe Welt über die Black-Mirror-Episode Bandersnatch, die es erlaubte, die Geschichte des Programmierers Stefan (Fionn Whitehead) durch binäre Entscheidungen an mehreren Punkten innerhalb der Geschichte in verschiedene Bahnen zu lenken und damit über Verlauf und Ausgang der Handlung zu entscheiden. Es begann mit der simplen Wahl des Frühstücks — und setzte sich bis zur Frage fort, ob Stefan jemanden töten soll oder nicht. Für viele Netflix-Nutzer*innen war Bandersnatch wohl der erste interaktive Film, den sie bewusst wahrnahmen. Neu war diese Idee aber bei weitem nicht. Zeit für einen kleinen Blick in die Vergangenheit.

 

Experimente in der 60ern

Der führt uns, will man die Anfänge betrachten, zurück bis ins Jahr 1961. Da erschien Der unheimliche Mr. Sardonicus von Gimmick-King William Castle, ein Gruselfilm um den sadistischen, titelgebenden Baron Sardonicus, der seine Mitmenschen terrorisiert — und dafür am Ende die Quittung bekommt. Das Kinopublikum durfte mittels Hochhalten von Karten abstimmen, ob Sardonicus mit dem Tode bestraft oder verschont wird. Allerdings: Auswirkungen hatte die Wahl nicht. Ein anderes Ende als jenes, in dem Sardonicus zu Tode kommt, wurde nie gedreht — das Publikum bekam lediglich das Gefühl, über den Ausgang bestimmen zu können.

„Echte“ Interaktivität - bei der es also zwangsläufig ein interagierendes Publikum braucht, um das Werk zu vervollständigen, und bei dem dessen Entscheidungen tatsächlich Auswirkungen hatten — bot erstmals der tschechische Film Kinoautomat von Radúz Činčera, der seinen Film bei der Weltausstellung 1967 in Montreal zeigte. Die Zuschauer*innen durften hier im Verlauf der Handlung neun Mal per Knopfdruck entscheiden, wie es für den Protagonisten weitergeht. Ein Moderator trat in den entsprechenden Momenten auf die Bühne, nach der Wahl wurde zwischen zwei parallel laufenden Projektoren auf jenen umgeschaltet, dessen Filmrolle die Entscheidung wiedergab. Die Abstimmung hatte aber lediglich Auswirkungen auf den zwischenzeitlichen Verlauf der Handlung — das Ende war stets das gleiche. Činčera wollte damit die Illusion von Entscheidungs- und Wahlfreiheit in Demokratien kritisieren.

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Technische Innovation #1: Laserdisc und CD-Rom

Danach wurde es mehrere Jahre still um das Experiment Interaktiver Film, was nicht zuletzt im hohen Aufwand bei Technik und Produktion begründet lag. Mit der Laserdisc und — noch viel mehr — der CD-Rom kam der Wandel. Im Gegensatz zum linearen Abspielvorgang einer VHS-Kassette oder eines Kinoprojektors ermöglichte die digitale Abtastung der Disc eine nicht-lineare Abfolge von Bildern und Sequenzen, was der Interaktivität Tür und Tor öffnete. Und sich vor allem in Videospielen niederschlug, deren konstituierendes Merkmal schließlich die Interaktion mit dem Geschehen auf dem Bildschirm ist.

Endlich konnte man die groben Pixel von Pong, Tetris und Mario hinter sich lassen und reale Videosequenzen nutzen, um etwa eine Cowboy-Schießerei oder FMV-Spiele (Full Motion Video) zu inszenieren, die oft als rätsel- und storylastige Adventures daherkamen. Die Hintergründe waren in der Regel computergeneriert, die Figuren hingegen von realen Schauspieler*innen verkörpert. Der spielerische Anteil wurde dabei allerdings auf wenige, rudimentäre Mechaniken zusammengestutzt, derweil die Interaktionen mit Personen oder Gegenständen in ausschweifenden (aber nicht-interaktiven) Videosequenzen mündeten. Mehr Film als Spiel also. Und da die Technik noch in den Kinderschuhen steckte sowie zeit- und kostenintensiv war, muteten die Ergebnisse zumeist eher trashig an. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, sei ein Blick auf Werke wie Phantasmagoria (1995), Gabriel Knight 2 (1995) oder The 7th Guest (1993) empfohlen. (Bill Gates erklärte Letzteres zum neuen „Standard interaktiver Unterhaltung“ — wie falsch er doch lag.) Zum wohl bekanntesten Film-Spiel-Hybrid dieser Zeit zählt jedoch Die Versuchung (1998), unter anderem mit John Hurt.

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Und im Kino? Da fristeten interaktive Filme in den 90ern weiterhin ein minimales Nischendasein. Dennoch wurde — in diesem seltsamen Jahrzehnt des crossmedialen Experimentierens - weiter eifrig an derartigen Formaten herumgewerkelt. 1992 erschien mit dem 20-Minüter I’m Your Man die erste interaktive Filmproduktion Nordamerikas, die es — abgespielt von Laserdisc — auf die großen Leinwände schaffte. Erneut konnte das Publikum mehrmals per Knopfdruck zwischen drei Optionen darüber entscheiden, auf welchem Pfad die Geschichte fortgeführt wird. Die neue Technologie (Knöpfe und ein Joystick in den Armlehnen der Sessel) wurde in zahlreichen Kinos der Loews-Cineplex-Gruppe installiert in der Hoffnung, sie würde das Publikum begeistern können. Und das tat sie zunächst auch, allein es fehlte der Nachschub mit neuen Filmen. Erst 1995 folgte Mr. Payback, für den rund zwei Stunden Filmmaterial aufgenommen wurden, die dann in einer 20- bis 30-minütigen Kinoerfahrung mit mehreren Entscheidungspunkten mündeten. Doch das reichte nicht aus, um die Technologie rentabel zu halten, sodass schon bald der Rückbau erfolgte.

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Kollektive vs. individuelle Interaktivität

So wirklich klappte das also nicht, die Kombination von Interaktivität und filmischer Erfahrung. Zumindest im Kino. In den Wohnzimmern sah das anders aus: Videospiele rissen dieses kuriose Subgenre immer mehr an sich, sahen von Jahr zu Jahr besser, realistischer, filmischer aus. Gamedesigner Hideo Kojima verpasste seinem ersten 3D-Spiel Metal Gear Solid (1998) eine überaus cineastische Inszenierung mit ausufernden Filmsequenzen, stilisierten Kamerafahrten und zahlreichen Anspielungen auf Kinoklassiker wie Die Klapperschlange. Für Kojimas jüngstes Werk Death Stranding (2019) schlüpften Stars wie Mads Mikkelsen, Guillermo del Toro, Nicolas Winding Refn, Léa Seydoux und Norman Reedus in Performance-Capture-Anzüge. 

David Cage und sein Studio Quantic Dream machten derweil verschachtelte Erzählungen mit schweren, moralischen Entscheidungen zu ihrem Markenzeichen. Im Krimidrama Heavy Rain (2010) sind vier Figuren spielbar, von denen jede theoretisch sterben kann, was zu unterschiedlichsten Enden der Handlung führt. Telltale Games wiederum machten sich unter anderem durch die Adaption von The Walking Dead einen Namen, auch hier stehen Story und moralische Entscheidungen auf Kosten spielerischer Freiheit im Vordergrund. Trotz vieler kritischer Stimmen, die in solchen Werken die Essenz des Mediums Videospiel (Interaktivität) vermissen, waren sie dennoch kommerziell erfolgreich und fanden bei der Kritik Anklang.

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Für den Erfolg interaktiver Erzählungen scheint also der Rezeptionsraum von hoher Bedeutung zu sein. Schließlich liegt ihr Reiz darin, dass die Entscheidungen der Zuschauer*in/Spieler*in Relevanz haben - oder zumindest diesen Anschein erwecken. Ein gefüllter Kinosaal, in dem die eigene Stimme nur eine von vielen ist und in der Menge untergeht, ist dem wenig zuträglich. Auftritt des Heimkinos: 2007 versuchten sich mehrere kanadische Filmschaffende an der DVD-Produktion Late Fragment, Zuschauer*innen konnten per einfachem Knopfdruck auf ihrer Fernbedienung zwar nicht den Handlungsverlauf bestimmen, aber zumindest die Perspektive wechseln und so mehr über die Hintergründe und Schicksale einzelner Figuren erfahren. Late Fragment stieß auf deutlich positivere Resonanz, doch erfolgreiche Nachahmer blieben aus.

 

Technische Innovation #2: Streaming

Jetzt also Streaming. So wie die Laserdisc und die CD-Rom durch eine einschneidende technische Neuerung interaktives Erzählen beförderten, scheint dies nun auch die jüngste Innovation vollbracht zu haben. Dass sich ausgerechnet Netflix in diesem Segment austobt (und damit anscheinend Erfolg hat — tatsächlich hat der Streaming-Dienst bereits eine ganze Handvoll interaktiver Specials vorgelegt), kommt wenig überraschend, was an drei Faktoren liegt. Erstens muss dank des Abomodells niemand mehr Extrakosten für Experimente wie Bandersnatch zahlen, die Einstiegshürde liegt faktisch auf Schuhsohlen-Höhe. Zweitens kann das Verhalten der Nutzer*innen (Wo springen sie ab, wie entscheiden sie sich, fallen die Entscheidungen zu einseitig aus?) penibel analysiert werden, um künftige interaktive Produktionen zu optimieren. Und drittens wird eine Zielgruppe bedient, die mit Videospielen aufgewachsen ist, für die interaktives Erzählen also eine vertraute Erfahrung ist.

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Dennoch sprechen die reine Anzahl interaktiver Filme (es gibt zwar durchaus einige experimentelle, spaßige, aber auch sehr begrenzt interaktive Formate im Netz) und der Status des Exotischen, der ihnen nach wie vor anhaftet, dafür, dass es sich nicht um die „Zukunft des Mediums“ handelt, wie es in solchen Fällen ja gern proklamiert wird. Sondern dass Interaktivität weiterhin vornehmlich der Domäne der Videospiele vorbehalten bleiben wird. Denn wo dessen Hauptmerkmal das Eingreifen in das Geschehen auf dem Bildschirm ist, ist der Film in erster Linie ein narratives, erzählendes Medium. Und ein Blick auf Filme wie Bandersnatch sowie auf zahlreiche Games zeigt, dass die Qualität einer Erzählung in der Regel höher ist, wenn sie einer kohärenten und konsistenten Vision folgt. Die Zukunft wird zeigen, wohin Netflix und andere Filmschaffende diese Chimäre namens Interaktiver Film noch führen werden.

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