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Die Möglichkeiten nicht-fiktionaler Filme

Ein Beitrag von Fabian Tiedtke

Wo verläuft die Linie zwischen Fiktion und Dokumentarfilm? Lassen sich die beiden Formen mischen? Und wo liegen möglicherweise Grenzen? Darüber diskutierte man in Köln beim Symposium des Filmbüros NW.

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FilmbüroNW
Mutter / Easy Love

Acht Frauen, die über ihre Rolle als Mutter und ihre Beziehungen sprechen. Auf der Tonspur sind acht Stimmen mit all ihren Eigenheiten wie verschluckten Silben, regionalen Färbungen und sozialen Prägungen klar unterscheidbar, im Bild aber ist nur eine Frau zu sehen: Anke Engelke. Die Schauspielerin bewegt die Lippen zu den Interviews. Carolin Schmitz’ „Mutter“ führte unlängst die Möglichkeiten vor Augen, die Formen jenseits des klassischen Dokumentarfilms bieten.

Ende September widmete sich das diesjährige Symposium des Filmbüro NW unter dem Titel „Hybride SpielRäume im Film“ genau solchen filmischen Formen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Einen Tag lang diskutierten Vertreter_innen der Filmbranche in fünf Panels und zwei Filmprogrammen die Möglichkeiten und Probleme des Hybriden. Den Kern des Symposiums bildeten zwei Panels direkt vor und nach der Mittagspause. Vor der Pause wurden zwei Mockumentaries vorgestellt, nach der Pause folgten drei Filmprojekte, die von dokumentarischen Ansätzen ausgehend neue Formen gesucht haben.

© Filmbüro NW


Produzent Thomas Reglin und Cutter Henk Drees führten am Beispiel von Olaf Jagger, den sie derzeit mit Regisseurin Heike Fink fertigstellen, aus, auf welche dokumentarischen Elementen sie in ihrem Film zurückgegriffen haben. In dem Film findet Olaf Schubert heraus, dass seine Mutter in den 1960er Jahren eine kurze Affäre mit Mick Jagger gehabt haben soll. Doch auch wenn Handkameras und die Art, wie diese den Protagonisten in den Szenen begleiten, dokumentarische Formen evozieren, kamen Reglin und Drees insgesamt zum Schluss, dass sowohl die Drehbedingungen als auch die Organisation des Materials für die Montage des Films eher der Logik eines Spielfilms folgten.
 
Ähnliches beschrieb Georg Nonnenmacher am Beispiel des Films Diamante und mein Bruder, den er gemeinsam mit Ingo Haeb realisiert hat. Die Mockumentary über einen deutschen Fußballer, der in Brasilien zum Starspieler wird, läuft aktuell auf dem Filmfestival Cologne. Bei beiden Filmprojekten ging es in erster Linie um die Frage, wie man einem fiktionalen Stoff das Aussehen eines Dokumentarfilms verleiht. Beide Projekte griffen dokumentarische Elemente in einer Form auf, die seit Ricky Gervais’ Serie The Office (2001) und deren diversen nationalen Adaptionen etabliert ist.

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Der Fokus auf technische Fragen in Mockumentary-Panel stand in klarem Gegensatz zu den Themen der anschließenden – in einem männlich dominierten Symposium erfreulich weiblich besetzten – Diskussionsrunde, in der es um die Filme Easy Love (Tamer Jandali, 2019), Solange Sie noch Arme haben (Luisa Bäde, 2019) und Carolin Schmitz’ Mutter ging. Für alle drei Regisseur_innen standen inhaltliche Fragen im Zentrum der Formsuche. Luisa Bäde hat nach einem Weg gesucht, den Puppenspieler Frank Karbstein, der nach Protestaktionen in der DDR inhaftiert wurde, dazu zu bringen, aus seinem Leben zu erzählen. Sie teilte das Studio in Stationen aus dem Leben von Karbstein auf und ließ ihn Szenen mit Puppen reinszenieren und diese Szenen kommentieren. Tamer Jandali und Produzent Lino Rettinger haben ihren Protagonist_innen in Easy Love den Raum gegeben, sich selbst zu spielen und so verschiedene Facetten von sich selbst auszuprobieren. Für Carolin Schmitz war die Bündelung ihrer Interviewpartnerinnen in der Darstellung durch Anke Engelke der Weg, keine klassischen talking heads zu zeigen.

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Während es in dem Panel zu den Mockumentaries darum ging, wie der Anschein des Dokumentarischen in fiktionalen Filmen erzeugt wird, ging es den Filmemacher_innen des Dokumentarfilmpanels um die Suche nach einer Form für den Inhalt ihrer Filme. Das zeigt sich auch in den Filmen: Während sich Olaf Jagger und Diamante und mein Bruder formal recht ähnlich sind, nutzen Mutter, Easy Love und Solange Sie noch Arme haben eine große Bandbreite von Gestaltungselementen.
 
„Dokumentarfilm ist eine ungeschickte Beschreibung, aber behalten wir sie bei.“ Der britische Regisseur John Grierson gilt heute als einer der Gründerväter des Dokumentarfilms. Sein Text „Grundsätze des Dokumentarfilms“, publiziert in drei Teilen von 1932 bis 1934, ist einer der Gründungstexte der Gattung. So unglücklich Grierson mit dem Label Dokumentarfilm ist, so sehr glaubt er an die Möglichkeiten nicht-fiktionaler Filme: „Wir glauben, dass die Materialien und Geschichten, die so aus dem Rohen genommen werden, feiner sein können als die gespielten Artikel. Spontane Gesten haben einen besonderen Wert auf der Leinwand.“
 
Griersons Vertrauen auf den Wert von Spontaneität auf der Leinwand setzten Thomas Reglin und Henk Drees zu Beginn ihrer Projektvorstellung im Mockumentary-Panel das Pathos eines Zitats von Sergej Eisenstein entgegen: „In einem guten Film geht es immer um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“
 
Die Schlagworte Wahrheit/Wirklichkeit blieben ohne weitere Erörterung in der Luft hängen, im konkreten Fall sollte das Zitat aber wohl dazu dienen, für Olaf Jagger einen Anspruch auf Wahrheit zu beanspruchen, der nur scheinbar dokumentarischen Form zum Trotz. Dokumentarfilm wiederum wurde auf die Leinwandprojektion von Wirklichkeit festgelegt. Man musste mit Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass auch ein Cutter wie Drees, der wiederholt an Dokumentarfilmprojekten mitgewirkt hat, den Dokumentarfilm aus strategischen Gründen zum Papiertiger macht. Die Reduktion auf die Abbildung von Wirklichkeit blendet eine ganze Reihe von Diskussionen über die Rolle von Interventionen des_der Filmemacher_in, des Einflusses der Montage und von Kommentartexten aus.

Ein Film, der 2019 wegen nicht ausgewiesener Spielszenen in die Kritik geriet: Lovemobil; © Busch Media Group


 
Überraschenderweise folgte im Laufe des Tages auf diese Beschwörung eines Papiertigers das wiederholte, beiläufige Verwerfen der Relevanz jedweder Trennung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Dabei leben die beiden Filmformen in weitgehend getrennten Festivalwelten und wer Geld für einen Film beantragt, muss sich auch 90 Jahre nach Griersons Text noch immer entscheiden, ob er_sie ein Projekt gegenüber einer Jury für dokumentarische oder fiktionale Filmprojekte vertreten möchte. Der Widerspruch, einerseits die Relevanz der Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm zu bestreiten und andererseits die Produktionsbedingungen klar dichotom voneinander abzugrenzen, blieb leider weitgehend undiskutiert.
 
Im Laufe eines dicht getakteten Tages zeigte das Symposium des Filmbüros die Bandbreite hybrider Formen im deutschen Film. Bedauerlicherweise fanden die Diskussionen auf dem Symposium keinen Weg, über die Besprechung konkreter Projekte hinaus, die Vor- und Nachteile bestimmter Formen der Hybridität abzuwägen und Großthesen wie das beiläufige Abservieren der Gattungsunterschiede zwischen Spiel- und Dokumentarfilm kritisch zu befragen. Es steht zu hoffen, dass diese Diskussionen sich künftig den Platz nehmen, den sie verdienen – und dass sie in der nötigen Komplexität geführt werden.
 
Der Aufenthalt des Autors beim Symposium wurde vom Filmbüro NW unterstützt. Das Programm des Symposiums findet sich hier.

 

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