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"Chernobyl" und andere Katastrophen

Ein Beitrag von Christian Neffe

Das Jahr in 7 Filmen #5: In der großartigen HBO-Miniserie „Chernobyl“ wurde nicht nur die Reaktorkatastrophe in der Nord-Ukraine minutiös aufgearbeitet — sie zog auch klare Parallelen zu aktuellen Umweltdebatten.

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Jared Harris und Emily Watson in "Chernobyl"
Jared Harris und Emily Watson in "Chernobyl"

Die Handlung von „Chernobyl“ beginnt am 26. April 1988, in der Wohnung des Wissenschaftlers Waleri Legassow (Jared Harris), der soeben einige Tonbänder aufgenommen hat. Nervös blickt er aus dem Fenster — wissend, dass er vom Geheimdienst beobachtet wird. Er versteckt die Bänder in einer Seitengasse neben seinem Haus, geht wieder nach innen, zündet sich eine letzte Zigarette an. Dann legt er einen Strick um seinen Hals und springt von einem Hocker.

Zeitsprung. Zurück ins Jahr 1986, exakt zwei Jahre und eine Minute zuvor. Blick aus dem Fenster der Wohnung einer Familie, die in Pripyat lebt. Am Horizont leuchtet ein heller Lichtblitz auf, dann ist die Druckwelle zu spüren. Es ist der Beginn einer der größten und gefährlichsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Denn soeben ist der Reaktor des örtlichen Kernkraftwerks explodiert.

Was in den ersten Minuten der sechsteiligen HBO-Serie Chernobyl geschieht, ist der Auftakt einer schockierenden Geschichte über technisches, vor allem aber politisches Versagen. Denn natürlich wird das Ausmaß der Schäden zunächst ignoriert, dann heruntergespielt und schließlich geleugnet. Nicht einmal, als sich der Kraftwerksleiter Anatoli Dyatlov (Paul Ritter) vor den örtlichen Politfunktionären aufgrund der Strahlung erbricht, wollen diese eine Evakuierung anordnen. Ihre Reputation ist ihnen wichtiger. Und so marschieren die Feuerwehrleute von Pripyat unwissend auf den brennenden Reaktor zu — direkt hinein in den qualvollen Strahlentod.

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„Chernobyl“ (c) Polyband / HBO

Es dauert nicht lang, bis mehrere Fachexpert*innen Wind von der Sache bekommen. Die Nuklearwissenschaftlerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) will die Behörden vor der herannahenden Strahlung warnen, scheitert jedoch an bürokratischen und patriarchalen Hürden. Der Chemiker Waleri Legassow wird derweil zu einer Sondersitzung im Kreml geladen und spricht als einziger in der Runde seine Befürchtungen aus. Zusammen mit Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård) begibt er sich nach Pripyat und versucht mit allen Mitteln, die Folgen des Reaktorunfalls einzudämmen.

Auch wenn unser Jahresrückblick unter dem Motto „Das Jahr in 7 Filmen“ steht und es sich bei Chernobyl um eine Miniserie zu sechs Folgen von jeweils einer Stunde Laufzeit handelt, wollen wir zumindest an dieser Stelle die Definition nicht allzu eng sehen. Erstaunlich ist an dieser Serie nämlich nicht nur der Fakt, dass ihre Entstehung auf Craig Mazin zurückgeht, dessen Name bisher auf den Drehbüchern zu bestenfalls durchwachsenen Komödien wie Hangover 2 und 3, Superhero Movie oder Voll abgezockt stand. Sondern vor allem die schiere Brillanz, die sich in jedem Aspekt dieses Glanzstücks der TV-Unterhaltung zeigt.

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„Chernobyl“ (c) Polyband / HBO

Das betrifft allem voran die historische Akkuratesse - sowohl bei kleinen und großen Set-Elementen (Zigarettenschachteln, Autos, Uniformen, Hausfassaden) als auch bei der minutiösen Rekonstruktion der realen Ereignisse und der daran beteiligten Personen. Dramaturgische Überspitzungen erlaubt sich Chernobyl nur selten (die Realität war schließlich dramatisch genug). Und unter den relevanten Figuren gibt es nur eine, die gänzlich der Fantasie Mazins entsprang: Emily Watsons Ulana Khomyuk, die gleichwohl stellvertretend für alle weiteren Wissenschaftler*innen steht, die an der Aufarbeitung des Reaktorunglücks beteiligt waren.

Dass Chernobyl vor einigen Monaten einen solchen Hype erfuhr, lag allerdings nicht nur seinen handwerklichen und inhaltlichen Qualitäten. Wie kaum ein anderes audiovisuelles Werke des vergangenen Jahres vermochte es die Serie, Parallelen zur aktuellen Debatte um den Klimawandel zu ziehen. Beides — Radioaktivität und Klimawandel — sind unsichtbare Gefahren, deren Auswirkungen erst spät sichtbar werden. Politisch wird deshalb zunächst gezögert: Aus Angst vor ideologischen und wirtschaftlichen Schäden werden Fachfrauen und -männer überhört und schlussendlich denunziert. Und doch sprechen sie letztlich allen Widerständen zum Trotz Klartext. Das Problem, so die Konklusion, kann letztlich nur unter großen finanziellen Opfern und als gesamtgesellschaftliche Anstrengung bewältigt werden.

In dem Jahr, in dem „Fridays For Future“ von einer Graswurzelbewegung zur treibenden öffentlichen Kraft in der verschleppten Klimaschutzdebatte wurde und das Thema vermehrt auf die Titelseiten hob, zeigt Chernobyl die politischen und gesellschaftlichen Dynamiken, die derartige Menschen-gemachte Katastrophen begleiten. Damit einher geht auch, dass wissenschaftliche Erkenntnisse vielfach ignoriert werden. Denn, wie sich am Ende der Serie herausstellt: Der Konstruktionsfehler, der der Reaktorexplosion zugrunde lag, war längst bekannt. Dass inzwischen auch immer mehr Forscher*innen den Klimademonstranten zur Seite springen, sollte also Warnung genug sein.

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