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Cannes-Perlen: 7 Lieblinge der Kino-Zeit-Redaktion

Ein Beitrag von Redaktion

Das Filmfestival in Cannes gilt als wichtigstes der Welt — und doch wurden über die Jahre so einige Preisträger*innen mal mehr, mal weniger vergessen. In Vorbereitung auf die diesjährige Ausgabe, die am 17. Mai startet, wirft die Redaktion eine Schlaglicht auf ihre persönlichen Lieblinge.

Meinungen
L'Humanité / Kagemusha / If...
L'Humanité / Kagemusha / If...

If… (1968) von Lindsay Anderson

Als großer Fan des Coming-of-Age-Dramas … denn sie wissen nicht, was sie tun (1955) bin ich immer auf der Suche nach Werken, die sich mit der Rebellion der Jugend befassen. So stieß ich dank einer DVD-Neuauflage vor einigen Jahren auf Lindsay Andersons If…, der 1969 die Goldene Palme in Cannes erhielt. Der britische Regisseur (1923-1994) zeigt darin ein englisches Internat als Institution, die jegliche Individualitätsentfaltung unterdrückt. Die hierarchische Schulordnung macht einige wenige ältere Schüler zu Privilegierten, die den jüngeren Befehle erteilen dürfen. Eine Nichtbefolgung der Befehle kann zu sadistischen Bestrafungen führen. Mick (Malcolm McDowell) widersetzt sich mit zwei Freunden jedoch beharrlich und entfacht – in der Fantasie? – eine bewaffnete Revolte.

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Realität und Imagination kommen sich in If… so nahe, dass man sie kaum auseinanderhalten kann. Der willkürlich wirkende Wechsel von Farb- und Schwarzweiß-Aufnahmen (der möglicherweise finanzielle oder technische Gründe beim Dreh hatte) trägt zur Irritation bei; zudem arbeitet Anderson mit Momenten der Absurdität – etwa wenn sich der Flirt zwischen Mick und einer Café-Bekanntschaft in eine raubtierhafte Balgerei wandelt und mit Gesang aus der Missa Luba unterlegt wird. Besonders beeindruckend ist, wie McDowell als Anti-Held der körperlichen Züchtigung zunächst mit unerwartet würdevollen Gesten entgegentritt.

(Andreas Köhnemann)

Kagemusha (1980) von Akira Kurosawa

Klar, wir alle kennen Rashomon, Yojimbo, Die Sieben Samurai — die großen Schwarzweiß-Klassiker des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa eben. Aber Kagemusha? Der genießt, zumindest in meinem Bekanntenkreis und selbst unter Kurosawa-Fans, leider nicht mal ansatzweise die Bekanntheit, die ihm eigentlich zusteht. Und das, obwohl Kagemusha 1980 die Goldene Palme abräumte. Vielleicht auch deshalb, weil er in der Rückschau ein wenig im Schatten des fünf Jahre später erschienenen Ran steht.

Ich gebe zu: Auch mir sagte dieser Film bis vor einigen Jahren nichts. Das änderte sich erst bei einem Flohmarktbesuch und dem obligatorischen Wühlen in einer der dortigen Blu-ray-Kisten, wo mir zwischen all den 08/15-Hollywood-Produktionen Kagemusha ins Auge fiel. Oder vielmehr drei Namen auf dem Cover: Akira Kurosawa, Francis Ford Coppola und George Lucas. Die beiden Letzteren übernahmen zwar keine kreative Rolle, retteten aber die Finanzierung des Films, indem sie 20th Century Fox überzeugten, das Geld für die Fertigstellung bereitzustellen.

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Und ein Glück, dass sie das getan haben! Denn Kagemusha erzählt zwar „lediglich“ eine weitere der vielen Historien-Samurai-Geschichten à la Kurosawa, in der ein Fürst, der sich im Krieg befindet, getötet wird und seine Position von einem zuvor begnadigten Taschendieb übernommen wird, der ihm bis aufs Haar gleicht. Doch wenn die Farbfilme des Regisseurs durch eines bestechen, dann durch ihre überwältigende Optik, die auch hier zur vollen Geltung kommt — man bediene nur mal die Google-Bildersuche.

(Christian Neffe)

Le monde du silence / Die schweigende Welt (1956) von Jacques-Yves Cousteau und Louis Malle

Abseits des Scheinwerferlichts auf die großen Namen der Spielfilmregisseur:innen spielen die Dokumentarfilme in Cannes häufig eine Nebenrolle. Dabei war das nicht immer so. 1956 nahm Le monde du silence (deutscher Titel: Die schweigende Welt) am Wettbewerb in Cannes teil und gewann prompt als erster Dokumentarfilm überhaupt die Goldene Palme. Und es sollte für lange Zeit die einzige dieser Auszeichnungen für einen Dokumentarfilm sein, denn erst im Jahre 2004 konnte Michael Moore mit Fahrenheit 9/11 ebenfalls eine Goldene Palme entgegennehmen. 

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Der Film markiert aber nicht nur wegen seines Gewinns in Cannes Filmgeschichte, sondern er war zugleich auch der Startpunkt für eine andere bedeutende Karriere. Denn neben dem bekannten Meeresforscher Jacques Cousteau selbst wird noch ein zweiter Name bei den Verantwortlichen für die Regie geführt: Louis Malle. Ursprünglich hatte Cousteau den Film über seine Expeditionen auf den Weltmeeren gemeinsam mit Jacques Ertaud realisieren wollen, doch der trug sich damals gerade mit Heiratsabsichten, sodass sich der Forscher nach einem Ersatz umschauen musste. Also fragte er den Direktor der Pariser Filmschule Filmhochschule Institut des hautes études cinématographiques (IDHEC), ob denn einer von dessen Studenten in den Sommerferien vielleicht Zeit habe. Der damals gerade 20 Jahre alte Louis Malle, der sich fürchterlich langweilte an der Hochschule, weil ihm der Unterricht viel zu theoretisch war, bekam als Klassensprecher als erster Wind von dem Angebot und schwindelte sich mit Kenntnissen, die er noch nicht hatte, an Bord der Calypso. Am Ende waren es vier Jahre, die er mit Cousteau zusammenarbeiten sollte. Und der Rest ist Geschichte. 
Der Film indes hat bis heute nichts von seinem Zauber verloren und ist buchstäblich ein Abtauchen in eine andere Welt. 

(Joachim Kurz)

Der Tod des Herrn Lazarescu (2005) von Cristi Puiu

Warum dieser Film als Komödie beschrieben wird, ist mir bis heute ein Rätsel. Sicherlich ist diese Geschichte von einem lakonischen Witz geprägt, der sich im Verlauf jedoch immer mehr verflüchtigt, so wie auch der Hauptfigur zunehmend das Leben auszugehen scheint. Mit falschen Erwartungen sollte man an diesen großartigen Film wirklich nicht herantreten — den Schenkelklopfer wird es nicht geben. Vielmehr geht es um den Wert des Lebens, um Lebenslügen und Tod — letztlich auch um das rumänische Gesundheitssystem. 2005 hat der Film den Prix Un Certain Regard gewonnen. Die Palme d’Or ging seinerzeit an die Dardenne-Brüder für Ein Kind. Ein guter Jahrgang.

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In seinem Film erzählt der rumänische Regisseur Christi Puiu die Geschichte einer quälenden Odyssee. Dante Remus Lăzărescu fühlt sich nicht gut. Er sitzt in seiner Küche und ruft den Notarzt. Kopfschmerzen quälen ihn, und er hat sich erbrochen. Während er auf den Krankenwagen wartet, telefoniert er mit seiner Schwester, zu der er kein besonders gutes Verhältnis zu pflegen scheint. Die Kamera ist immer anwesend und zeichnet das alltägliche Geschehen mit empathischer Hinwendung auf. Die Zeit vergeht, und der Krankenwagen lässt auf sich warten. Erst als die Nachbarn nachhelfen, erscheint in Person der Notfallassistentin Mioara die so ersehnte Hilfe. Remus hat getrunken. Die Assistentin will es zunächst bei der Verabreichung von Elektrolyte belassen. Nachdem der alte Mann über weitere diffuse Schmerzen klagt, wird er in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht. Und genau an diesem Punkt beginnt die endlose Reise durch weitere Krankenhäuser und unzählige Hände von Ärztinnen und Ärzten. Ein schweres Busunglück mit mehreren Toten und einer Vielzahl von Verletzten überfordert das medizinische Personal. Niemand fühlt sich zuständig. Mal ist es das moralische Urteil über den Trinker Lăzărescu, dann das Ego eines Arztes, das im Wege steht. Und je länger diese Nacht dauert, umso tiefer driftet der Kranke in ein Delirium.

Auch wenn Der Tod des Herrn Lazarescu von einem offensichtlichen dokumentarischen Realismus geprägt ist, so darf man sich nicht täuschen lassen. Am Ende des Films wird auf subtile Weise ein poetischer Raum des Sterbens aufgemacht, der das dokumentarische Bild überschreitet — ein Moment, der an dieser Stelle natürlich nicht verraten wird.

(Sebastian Seidler)

Gefühle, die man sieht – Things You Can Tell (2000) von Rodrigo García

Ab und zu stößt man im TV-Nachtprogramm auf ungeahnte Glanzstücke der Filmkunst. So erging es mir vor längerer Zeit mit dem episodisch erzählten Drama Gefühle, die man sieht – Things You Can Tell (der im Original noch etwas genauer Things You Can Tell Just by Looking at Her heißt). Wie ich erst kürzlich festgestellt habe, wurde das Werk im Jahr 2000 mit dem Prix Un Certain Regard ausgezeichnet – dennoch dauerte es damals drei Jahre, bis der Film in Deutschland eine (kleine) Kino-Auswertung erhielt. Umso erstaunlicher ist das, wenn man einen Blick auf die Besetzungsliste des Regiedebüts wirft: Glenn Close, Holly Hunter, Cameron Diaz, Calista Flockhart, Kathy Baker, Amy Brenneman…

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Der Film von Rodrigo García schildert Begegnungen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz, widmet sich neuen und langjährigen Beziehungen und greift Themen wie Einsamkeit und Sexismus auf. Unter anderem mit Nine Lives (2005) und dem Historiendrama Albert Nobbs (2011) konnte García seine sensible Erzählweise auf der Leinwand fortsetzen, darüber hinaus fand er beim künstlerisch ambitionierten Fernsehprogrammanbieter HBO eine zweite Heimat, wo er bei Serien wie Six Feet Under (2001-2005) oder In Treatment (2007-2010) Regie führte. Seinen Erstling möchte ich allen, die ihn noch nicht kennen, ans Herz legen!

(Andreas Köhnemann)

Weißer Gott/Underdog (2014) von Kornél Mundruczó

Es ist mir ein absolutes Rätsel und mindestens tragisch, dass dieser Film in Deutschland nicht verfügbar ist — weder im Stream noch auf DVD. Dabei ist Weißer Gott (mancherorts auch unter dem Titel Underdog laufend) sowohl erzählerisch als auch inszenatorisch eine Wucht. Erzählt wird von der jungen Lilli, deren Mutter für drei Monate ins Ausland fährt und die deshalb mit ihrem Mischlingshund Hagen zu ihrem Vater ziehen muss. Der ist von dem Tier so gar nicht begeistert und setzt ihn aus — für Lilli beginnt damit eine lange Suche nach ihrem Freund und für Hagen ein Marathon durch die moralischen Abgründe Budapests, der darin gipfelt, dass er mit hunderten anderen Hunden eine Art Kreuzzug beginnt.

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Geradezu monumental fällt dabei die finale Sequenz aus, in der 280 Hunde — echte, wohlgemerkt, und keine aus dem Computer — durch die Straßen der ungarischen Hauptstadt hetzen. Überhaupt ist das hier keine typische Mensch-Tier-Freundschaft-Story, sondern eine eindrückliche Metapher für die politische Situation in Ungarn, allem voran den Rassismus, mit der die Regierung Orbán so offen kokettiert. 2014 erhielt die Regiearbeit von Kornél Mundruczó (Jupiter’s Moon, Pieces of a Woman) dafür den verdienten Prix Un Certain Regard - doch in Deutschland scheint man sich wenig darum zu scheren. Vor einigen Jahren hatte ich das große Glück, eine der seltenen TV-Ausstrahlungen zu erwischen. Wer nicht diese Geduld aufbringen kann/will, hat derzeit nur die Möglichkeit, zur Import-DVD greifen. (Oder gibt den Titel einfach mal bei YouTube ein… *hust*)

(Christian Neffe)

L’Humanité (1999) von Bruno Dumont

Die eigenwilligen, spröden und mitunter verstörenden Filme des französischen Regisseurs Bruno Dumont faszinieren mich. Möglicherweise hat es etwas damit zu tun, dass sie sich nicht anbiedern, man sie sich erarbeiten muss, nur um dann umso mehr belohnt zu werden. Nach so brutal-existenzialistischen Filmen wie Das Leben Jesu oder dem paranoiden Horrorfilmdekonstruktion Twentynine Palms hat sich Dumont mehr und mehr dem Humor geöffnet — die Arte-Serie KindKind - oder sich der Satire zugewandt — womit wir bei France wären. 

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Für mich ist es allerdings sein zweiter Film L’Humanité, der sich nachhaltig in meinem Bewusstsein eingenistet hat und der 1999 in Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde. Bis heute dürfte der Film in Deutschland nahezu unbekannt sein, wenngleich bis vor Kurzem noch in der Arte-Mediathek zu finden war. Das liegt auch daran, dass die Geschichte nicht leicht zu verdauen ist: In einer französischen Kleinstadt wird ein Mädchen vergewaltigt und ermordet. Die Ermittlungen des zuständigen Kommissars Pharaon de Winter verlaufen schleppend, und auch der Film scheint sich dafür nicht sonderlich zu interessieren. Vielmehr versuchen die Bilder in das spröde Innenleben dieses sonderbaren Mannes hinabzutauchen und werden dabei doch immer nur auf Abbildungen, Landschaften und Äußerlichkeiten stoßen: Das Obszöne wuchert in allen Ecken und Erlösung scheint nicht in Sicht. Dann am Ende dieses verstörende Lächeln, eine Irritation, die alle infrage stellt.

(Sebastian Seidler)    

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