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"Achtung Berlin" kehrt ins Kino zurück: 11 Empfehlungen für das Filmfestival

Ein Beitrag von Teresa Vena

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Ladybitch / Everything will Change / Axiom
Ladybitch / Everything will Change / Axiom

Nach zwei Jahren Pandemie und entsprechenden Sonderausgaben findet „Achtung Berlin“ vom 20. bis 27. April wieder in seiner alten Form statt. Wie gewöhnlich präsentiert das Festival eine reiche Auswahl an Spiel- und Dokumentarfilmen, die auf die eine oder andere Weise mit Berlin verbunden sind. Das kann bedeuten, dass die Handlung oder das besprochene Thema in der Stadt oder im geografischen Umfeld spielen oder dass die Filmemacher selbst von hier stammen. In der Regel bietet das Festival die Gelegenheit, insbesondere junge Stimmen des deutschen Kinos kennenzulernen. Und auch dieses Jahr sind einige Erstlingsfilme vertreten, die mit ihrer Haltung und ihren künstlerischen Ambitionen herausfordern und berühren. Das Gesamtprogramm unter diesem Link einsehbar. Wir haben uns darin umgesehen und folgende Empfehlungen zusammengestellt.

 

Die Welt von 2054 ist eine, in der alle Tiere ausgestorben sind. Der Mensch hat es geschafft, die Natur verkümmern zu lassen, sie zu vernichten. Wer in dieser Welt noch am leben ist, hat sich aber daran gewöhnt, so wie drei Freunde, die auf einer VHS-Aufnahmen einer Giraffe sehen und überzeugt sind, dass es sich um eine Montage handeln muss. Marten Persiel führt in seinem Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm vor, was uns erwartet, wenn wir den Klimawandel nicht weiter ernst nehmen. Für sein Plädoyer und sein Apokalypseszenario hat er mit einfachen Mitteln und ohne besonders aufwendige Spezialeffekte eine eindrückliche visuelle Form gefunden.

 

„Everything will Change“ (c) Farbfilm Verleih

 

Gibt es etwas Romantischeres, als auf einer Hochzeit dem eigenen Partner vor allen Leuten einen Heiratsantrag zu machen? Oder etwas Peinlicheres, wenn dieser nicht Ja sagt? Obwohl Marie ihren Julian liebt, ist sie sich unsicher. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf, und um diese zu ordnen, zieht sie sich aufs Land zurück. Die Gedanken umgeben sie auf ganz plastische Weise: Sie nehmen menschliche Form an. Erst tauchen sie ganz plötzlich auf, wie aus einem Hinterhalt, dann verselbstständigen sie sich, folgen einer eigenen Dynamik. Zora Rux hat ein schon fast nachliegendes, aber dennoch originelles und vor allem effektives Bild für das Phänomen des Gedankenkreisens gefunden. 

 

  • „Stille Post“ von Florian Hoffmann 

Khalil arbeitet in Berlin als Grundschullehrer. Seine kurdische Abstammung ist Teil von ihm, doch auch weit genug weg, um sie im Alltag weitgehend auszublenden. Als es in Cizre zu einem militärischen Angriff der türkischen Regierung auf die kurdische Bevölkerung kommt, ändert sich über Nacht alles. Plötzlich bilden sich in der Diaspora zwei Lager, Türken gegen Kurden, man verlangt auch von Khalil, dass er klar Stellung bezieht. Dann spielt man ihm Aufnahmen vor, die angeblich seine verschwunden geglaubte Schwester mitten im Kriegsgefecht zeigen. Regisseur Florian Hoffmann interessiert sich für die Bilder, die Krieg produziert, und wie diese Bilder die öffentliche Meinung beeinflussen. Der Film erzählt auch, wie schnell aus Nachbarn Gegner werden können, und schreibt sich leider in ein nur allzu bekanntes aktuelles Zeitgeschehen ein. 

 

  • „Youth Topia“ von Dennis Stormer

Man bleibt so lange Jugendlicher oder Jugendliche, bis der „Algorithmus“ an die Tür klopft und einem die perfekte Arbeit vorstellt. Dann wird man erwachsen: kein Herumhängen und Partymachen in der verlassenen Scheune mehr, saubere Kleidung, gekämmtes Haar und vor allem eine schicke, pragmatisch eingerichtete und saubere Wohnung. Obwohl Wanja den Kontakt zu ihren Freunden nicht verlieren möchte, wächst die Distanz zwischen ihnen zwangsläufig. Dann kommt es zu einem Eklat, die Welten der Jugendlichen und der Erwachsenen prallen aufeinander, ein Pony taucht auf. Dennis Stormer und Marisa Meier haben eine originelle Satire über unsere arbeitssame, leistungsorientierte Gesellschaft geschaffen, der es an gewissen Stellen an Prägnanz fehlt, die aber dennoch Denkanstöße gibt. 

 

  • Ladybitch von Marina Prados und Paula Knüpling

Er möchte, dass sich alle wohlfühlen. Jeder soll sich einbringen, um das Wedekind-Stück gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Das scheinen ideale, kollegiale Vorsetzungen zu sein, die der Theaterregisseur hier schafft. Doch dann beginnen die Proben, und sehr bald stellt sich heraus, dass es nur leere Worte waren. Insbesondere Ela, die die Hauptrolle übernehmen soll, leidet an den machistischen Vorstellungen, die der Regisseur durch ihren Charakter, eine laszive, knapp bekleidete Prostituierte, umsetzen will. Die Regisseurinnen Marina Prados und Paula Knüpling erzählen nicht ohne einen gewissen Humor von Machtmissbrauch und sexueller Nötigung im Theaterbetrieb, die sie aus eigener Erfahrung kennen. 

 

„Ladybitch“ (c) ldbp


 

Ein Hauch von Die fabelhafte Welt der Amélie steckt in dieser leichtfüßigen und farbenfrohen Beziehungskomödie, in der Friederike Kempter und Florian Lukas die Hauptrollen übernehmen. Sie spielt eine End-Dreißigerin, die unerwartet schwanger wird, sich über das Kind zwar freut, aber von ihm wegen seiner Ex-Freundin verlassen wird. Nach ein wenig Hin und Her und dem Versuch, die Beziehung wieder hinzubekommen, besinnt sich die Kempter-Figur auf ihre eigenen Stärken und findet in ihrem Umfeld die Unterstützung, die sie benötigt. 

 

  • Axiom von Jöns Jönssen

Viele Menschen stellen sich vor, jemand anderes zu sein: größer, dünner, reicher, talentierter oder einfach interessanter. Julius geht es auch so, und er macht sich in den Gesprächen mit anderen einfach zu dem, was er sein will. Er erzählt von inspirierenden Begegnungen, die er gemacht hat, von den Berufen, die er gerne ausüben möchte und der Familienchronik, die er sich wünscht. Dabei ist es natürlich wichtig, sich zu merken, wem man was genau gesagt hat. Mit einfachen Mitteln schafft der Regisseur einen spannenden Film, der insbesondere von seinem charismatischen Darsteller getragen wird. Man weiß bis zuletzt nicht genau, ob man diesen Hochstapler eigentlich mag oder nicht. Auf jeden Fall lässt er einen nicht unberührt – vermutlich weil ein wenig dieses Charakters in den meisten von uns steckt.

 

„Axiom“ (c) Bon Voyage Films

 

  • „Among us Women“ von Sarah Noa Bozenhardt und Daniel Abate Tilahun

Um der hohen Müttersterblichkeit im ländlichen Äthiopien entgegenzuwirken, müssten die medizinischen Infrastrukturen effizienter und vor allem zugänglicher sein. Vielfach ist es den Frauen im Notfall gar nicht möglich, weil kein Krankentransport zur Verfügung steht, um für eine Entbindung rechtzeitig in die Klinik zu kommen. Die Männer in dieser patriarchalisch organisierten Gesellschaft verspüren keinen sonderlichen Druck, daran etwas zu ändern. Vor allem solange die Frauen ihr eigenes Hilfsnetzwerk aufrechterhalten. Es ist dem Dokumentarfilm anzusehen, dass die Protagonistinnen den beiden Machern ein großes Vertrauen entgegengebracht haben, wenn sie mit ihnen über intime Dinge reden, als wären sie Teil ihrer Gemeinschaft.

 

Erst als ihr Vater starb, erfuhr die Regisseurin, dass dieser ein Leben lang gerne Frauenkleider getragen hatte. Die Eltern hatten dies aber als Familiengeheimnis bewahrt, die Verwandlungen des Vaters blieben im Verborgenen. Mit diesem Wissen ändert sich für Uli Decker schlagartig das Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Sorgt sie in der Familie wegen ihres eigenen Nonkonformismus immer wieder für Konfliktpotential, fühlt sie sich ihrem Vater zum ersten Mal wirklich nahe. Mit viel Selbstironie und Humor erzählt der Dokumentarfilm, wie konservative Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität ein Leben (in diesem Fall gleich mehrere) einengen, unnötig verkomplizieren und in gewisser Weise verhindern können. 

 

Die Geschichte der türkischen Popmusik ist untrennbar mit der Geschichte der türkischen Migration nach Deutschland verbunden. Dank einer umfangreichen Recherchearbeit und der Aufarbeitung eines riesigen Fundus an Archivmaterial hat Regisseur Cem Kaya ein Referenzwerk geschaffen. Er lässt darüber hinaus Musiker verschiedener Generationen zu Wort kommen, die alle von einer ähnlichen Realität erzählen. Obwohl der Film eine Vielzahl eher bitterer Aspekte wie Rassismus, strengen Arbeitsbedingungen und gesellschaftlicher Benachteiligung verhandelt, schlägt er keinen depressiven Tonfall an. Im Gegenteil zeigt er sich lebensfroh und bunt wie die Cover der Kassetten und Platten, die zur Identität ihrer Hörer gehören. 

 

„Liebe, D-Mark und Tod“ (c) filmfaust, Film Five

 

Was hat sich in den letzten 50 Jahren in Sachen Frauenrechte getan? Regisseur und Schauspieler RP Kahl versucht sich an einer Antwort und nimmt als Anstoß die Podiumsdiskussion „A Dialogue on Women’s Liberation“, die 1971 in New York stattfand. Damals saß unter anderem eben auch Susan Sontag im Publikum. Der Film rekonstruiert die illustre Runde von damals und versetzt sie in die deutsche Gegenwart. Fiktionsbrüche, Selbstironie und eine einfache, aber effektive visuelle Form machen den Film zu einem interessanten Experiment. 

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