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Locarno 2018

Weil im Film eben alles geht

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Die 71. Ausgabe des Filmfestivals in Locarno geht dem Ende entgegen. Zeit, um noch einmal die Aufmerksamkeit auf einige Höhepunkte zu richten — und auf eine Liebeserklärung an den Film selbst.

Meinungen
Vor Ort in Locarno
Vor Ort in Locarno

In der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag schaue ich Ruben Brandt, Collector, einen Animationsfilm von Milorad Krstic, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Irgendwo zwischen Heist Movie, Horror und Actionkomödie pendelnd, wird darin der kunstliebende Zuschauer zum Nerd, der anderthalb Stunden lang damit beschäftigt ist, Anspielungen auf Kunstwerke ausfindig zu machen. Mit seinen temporeichen, völlig entfesselten Animationen fühlt sich der Film dabei immer mehr nach einem interaktiven Rätselspiel an – die Auflösung erfolgt im Abspann, in dem sich die erkannten Gemäldereferenzen, Filmzitate und Musikstücke mit der vollständigen Liste abgleichen lassen.

Ruben Brandt, Collector zu schauen ähnelt damit dem Erleben eines Filmfestivals. Zuerst spielt man ein Strategiespiel: es gilt, möglichst viele Filme in den Stundenplan zu quetschen, die es sich zu sehen lohnen könnte. Dann folgt ein klassisches Jump’n’Run: man hastet von Film zu Film, versucht zu verstehen oder sich das Gesehene wenigstens zu merken und dabei möglichst am Leben zu bleiben. Im Nachhinein kommt der härteste Teil: von anderen zu lesen, was man trotz seiner Bemühungen alles verpasst hat. In Locarno spitzt sich dieses Schema noch zu. Weil das Festival bei Weitem nicht nur auf bereits etablierte Namen setzt, ist die Auswahl des eigenen Programms ein mehr oder weniger intuitiver Blindflug.

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Meine persönliche Hit-and-Miss-Quote in Locarno kann sich in diesem Jahr sehen lassen. Ein persönliches Highlight bildet etwa Hong Sang-soos neues Drama Gangbyun Hotel, das ich an anderer Stelle ausführlicher bespreche. Aber auch sonst ist das asiatische Kino in Locarno gut vertreten. In A Family Tour erzählt Ying Liang die Geschichte einer chinesischen Regisseurin, die sich wegen eines regimekritischen Films seit Jahren im Hongkonger Exil aufhält. Als sie für ein Festival nach Taiwan reist, organisiert sie dort ein unkonventionelles Treffen mit ihrer in Sichuan lebenden Mutter: sie schickt sie auf eine Busrundfahrt und folgt der Reisegruppe heimlich durch das Land. A Family Tour ist autobiografisch geprägt – auch Ying lebt seit seinem Drama When Night Falls im Exil. Entsprechende Beklemmung löst der Film aus, wenn er trotz seiner pastelligen Farben und der oberflächlich empfundenen touristischen Leichtigkeit eine Welt voll unterschwelliger (und berechtigter) Paranoia entwirft, in der die Regisseurin (gespielt von Nai An) permanent hin- und hergerissen ist zwischen ihren politischen Anliegen und dem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Familie. Dabei bleibt ihre Figur trotzdem stets in erster Linie eine Künstlerin. Nie skandalisiert Ying ihre Prioritäten, in denen ihr Mann und der gemeinsame Sohn durchaus untergeordnete Rollen spielen.

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Was für ein Kontrast gegenüber dem 1937er Melodrama Make Way For Tomorrow von Leo McCarey. Überhaupt: Falls alle Stricke reißen, ist auf die Retrospektive in Locarno Verlass. Und im letzten Drittel dieses lange Zeit verkannten Meisterwerks rollen die Tränen quasi unaufhörlich. Dabei ist der Film kein bisschen sentimental. Er fühlt sich nur an wie ein mit sachter Präzision inszeniertes anderthalbstündiges Abschiednehmen. Die uneingeschränkte Liebe von Mutter und Vater zu ihren Kindern ist hier Teil des Problems.

Retro
Roberto Turigliatto, der Kurator der Retro (r.) mit dem spanischen Filmkritiker Miguel Marías; Copyright: Katrin Doerksen

 

Als ein altes Ehepaar (Beulah Bondi und Victor Moore) ihr Haus an die Bank verliert, wird es voneinander getrennt, weil die Kinder jeweils nur ein Elternteil zu sich nehmen wollen. Niemand in Make Way For Tomorrow meint es böse. Gerade dass macht es so herzzerreißend mitanzusehen, wie drei verschiedene Generationen mit dem Blick auf die eigenen Probleme das Mitgefühl für ihre Angehörigen nicht in Taten umzusetzen vermögen. Gut zu wissen, dass mein letzter Festivaltag noch einmal gänzlich der Retrospektive gewidmet sein wird.

 

Zuvor muss ich aber noch einmal auf Ruben Brandt, Collector zurückkommen. Der Film endet wie er begonnen hat: im Zug, ausgerechnet. Das Fortbewegungsmittel, das allein schon wegen der filmstreifenartigen Gleise auf das Frappierendste ans Kino erinnert. Zum gleichmäßig voranstiebenden Rhythmus von Ludovico Einaudis Nightbook sitzt da die Hauptfigur am Fenster und schaut auf vorbeiziehende Landschaften wie auf eine Leinwand. Was für ein schöner Abschluss für einen Film, der seine Liebe der Kunst in all ihren Farben und Formen erklärt. Der von Botticelli und Velásquez über Magritte zu Hopper kommt und am Ende bei Muybridge landet, bei Méliès, Hitchcock und Kubrick. Der die Künste nicht nur reproduziert, sondern selbst mit Musik und Klängen, mit Pinseln und Pixeln malt und das Ganze im Bewegtbild vereint. Weil im Film eben alles geht.

Locarno
Copyright: Katrin Doerksen

 

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