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Kommentar

Schnittwechsel: Können Filme zu lang sein?

Ein Thema, zwei Meinungen — in dieser Ausgabe unseres Formats Schnittwechsel geht es um eine filmische Grundsatzfrage: die der Dauer. Christian Neffe und Sebastian Seidler haben da ganz unterschiedliche Präferenzen. 

Meinungen
Schnittwechsel_Dauer

Mäßigt euch!
von Christian Neffe

Zwei Stunden und sechsundzwanzig Minuten — so lang soll der dritte Teil der Jurassic World-Reihe mit dem Subtitel Dominion/Ein neues Zeitalter dauern. Womit sich der Streifen einreiht in all die Blockbuster, für die wir in den vergangenen Jahren einen Überlängenzuschlag an der Kinokasse abdrücken durften. Dass das irgendwann ins Geld geht, soll hier allerdings nicht der Punkt sein. Vielmehr geht es um das Problem mit der zunehmenden Filmlänge an sich. Aber ist es denn überhaupt ein „Problem“? Ist die regelmäßig zu hörende Klage, Filme würden ja immer länger, überhaupt haltbar?

Tatsächlich erweisen die meisten Statistiken, die zu diesem Thema auffindbar sind, dem eine Abfuhr. Przemysław Jarząbek stellte vor einiger Zeit fest, dass die durchschnittliche Länge eines Films zwar von den 30ern bis in die 60er deutlich zugenommen habe (nicht zuletzt wohl den immer billigeren Produktionskosten geschuldet), danach (mit New Hollywood) zurückgegangen und von den 90ern bis in die 2010er vergleichsweise konstant gewesen sei. Randy Olson konstatiert ebenfalls, dass die durchschnittliche Filmlänge seit 2000 nur minimale jährliche Abweichungen aufweise. (Freilich sind die letzten Jahre in diesen Auswertungen nicht einbezogen worden.)

Hat eine stolze Länge: Jurassic World 3 / © Universal Picrtures

Nun ist es wahrlich nicht meine Art, mit subjektiven Eindrücken gegen objektive Fakten anzureden. Und doch muss ich zwangsläufig vor allem an all die großen Blockbuster denken, die in den vergangenen Jahren verlässlich die Zwei-Stunden-Marke gerissen haben: The Batman (176 Minuten), Spider-Man: No Way Home (148 Minuten), Eternals (157 Minuten), Keine Zeit zu sterben (163 Minuten), Fast & Furious 9 (143 Minuten), Tenet (150 Minuten), Avengers: Endgame (182 Minuten), Star Wars 9 (142 Minuten). Auch wenn da jeweils zehn bis 15 Minuten für den Abspann draufgehen: Es ist auffällig, dass insbesondere Reihen wie Fast & Furious, Bond oder Star Wars im Vergleich zu ihren früheren Ablegern allesamt 20, 30 Minuten draufgelegt haben.

Dabei gibt es ja nicht umsonst diesen quasi magischen Bereich zwischen 90 und 120 Minuten, der sich etwa für Konzerte, Fußballspiele, eine Schuldoppelstunde oder eben auch Filme durchgesetzt hat: Hier liegt für viele Menschen die Grenze der (angenehmen) Konzentration, alles darüber hinaus wird anstrengend, wenn es nicht gerade im höchsten Maße zu fesseln weiß. Ganz davon abgesehen geht es bei alldem auch um mein ganz persönliches Zeitkontingent, das mit fortschreitendem Alter und neuen Verpflichtungen stetig enger wird. Da überlege ich es mir an der Kinokasse zweimal, ob ich lieber in den 90- oder den 150-Minüter gehe. (Spoiler: Dann doch lieber Ersteres.)

Für mich gilt seit einigen Jahren der Grundsatz: Ein Film braucht einen guten bis sehr guten Grund, wenn er die zwei Stunden überschreiten will. Ein Fantasy-Epos wie Der Herr der Ringe kann sich das selbstverständlich erlauben, das große MCU-Finale Avengers: Endgame als Kulmination von 23 Filmen ebenfalls, oder auch ein Science-Fiction-Monster wie Interstellar. Ermüdend bis langweilig, ja bisweilen gar nervenzehrend und anstrengend wird es allerdings, wenn ich zweieinhalb Stunden dabei zusehen muss, wie sich die Mitglieder von Dominik Torettos Familie gegenseitig in ihrer Männlichkeit überbieten, James Bond in seiner plötzlichen Rolle als Vater überfordert ist oder Quentin Tarantino in Once Upon a Time in Hollywood 160 Minuten lang der Nostalgie frönt, ohne etwas zu sagen zu haben. Und wenn Scorsese eine epochale Mafia-Geschichte über dreieinhalb Stunden hinweg ausbreitet, dann mag das zwar faszinierend sein — trotzdem stellt sich für mich die Frage, ob bei Netflix nicht doch jemand hätte intervenieren können: „Martin, wir wissen, du machst super Filme, aber vielleicht könnten wir die Geschichte dann doch noch etwas knackiger erzählen…“

Denn auch darum geht es: um das „knackige Erzählen“. Um die Reduktion aufs Wesentliche, um die Kunst und das Können, eine Geschichte so sehr auf das Wichtige zu verdichten, dass es keinen unnötigen Überschuss oder Ballast gibt. Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren — nicht zuletzt auch von mir selbst — die Worte „Wenn der Film doch nur zehn bis 20 Minuten kürzer wäre…“ gehört? Das mag Jammern auf hohem Niveau sein. Doch bei Kunst kommt es eben auch auf die scheinbar weniger wichtigen Dinge an, die alle das Gesamtwerk ausmachen. Was die Filmlänge betrifft, so liegt dort doch schon länger einiges im Argen. Deshalb, liebe Filmemacher*innen: Bitte mäßigt euch.

 

Ein Film ist kein Wunschkonzert
von Sebastian Seidler

Ich erinnere mich noch an meine Zeit in Hamburg. Auf dortigen Pressevorführungen gab vor Filmen mit länger Laufzeit immer das große Gejammer. Ein Kollege echauffierte sich derartig emotional, dass man ernsthafte Sorgen gemacht hat, ob ihm irgendwie die Zeit davonläuft. Gerade weil es sich um Menschen handelt, die sich beruflich mit Filmen beschäftigen, war ich doch sehr verwundert. Heute bin ich manchmal gar erbost: Wir haben gar keine Erwartungen an irgendeine Form zu stellen. Ein Film dauert erst mal so lange, wie er eben dauert. Punkt. Das heißt nun nicht, dass Filme nicht auch aufgeblasen sein können, sich in unnötigen Strängen verlieren. Doch ohne Begründung kann ich diese Phrase nicht mehr hören: Der Film hätte durchaus kürzer sein können. Warum genau?

Diese Kritikerfloskel verweist auf ein tieferliegendes Problem. Die Diagnose, ein Film würde zu lange gehen, ist engstens verknüpft mit einem starren Fokus auf das Kino als Erzählmaschine — als würde es im Film nur darum gehen, Geschichten zu erzählen. Nehmen wir einmal Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood, der mit seinen 160 Minuten auf jeden Fall lang ist. Seine Geschichte hätte der Film knackiger erzählen können. Das stimmt. Jede Geschichte kann man, wenn es nur um die Vermittlung der Handlung oder der Plotpoints geht, verdichten. Man nennt das auch Zusammenfassung. Kino aber ist Atmosphäre, eine beeindruckende Kamerafahrt, das Versinken in Musik und Schnitt und Ton und Farbe. Verzeihen Sie das Pathos, mit dem nun wirklich nicht jegliche Kritik an Filmlängen ausgehebelt werden soll. Dennoch kann man darauf nicht nachdrücklich genüg beharren: Tarantinos Film ist nicht bloß eine Geschichte, es ist ein Zustand, eine erschaffen Zeit, in die wir eintauchen können.

Dramaturgie. Immerzu geht es darum. Dabei sprechen wir kaum über die Bilder und die Formen, die Linien und die Komposition eines Films. The Batman braucht seine Zeit, weil Dunkelheit und Abgrund erst erzeugt werden müssen und die Fledermaus zum ersten Mal wirklich ermitteln muss. Wir dürfen bei diesen Ermittlungen dabei sein. Erst durch diese Dauer wird aus dem Superhelden ein verletzlicher Charakter, dem nicht einfach so alles von der Hand geht — wenngleich Batman natürlich Superheld bleibt und die Riddler-Rätsel immer vor Commissioner Gordon löst. Aber das ist auch in den Comics so. The Batman ist weit davon entfernt, einfach ein Action-Superheldenfilm zu sein; gerade die Film-Noir-Elemente brauchen ihre Zeit, benötigen elegische Momente des Verweilens. 

Oder nehmen wir ein noch aktuelleres Beispiel: The Northman. Auch nach diesem Film meinte eine Kollegin, dass der Film viel zu lang sei, da die Geschichte ja nicht besonders viel Neues zu bieten hätte. Auch hier der klassische Fall: Bloß eine Narration legitimiert 137 Minuten. Dabei geht es Regisseur Robert Eggers um die mythischen Rituale, die Wiederholung und Ewigkeit brauchen. Eine Geschichte, die so dermaßen vom Schicksal bestimmt wird, wie im Wikinger-Epos, kann sich nicht der Mechanik eines klassischen Drehbuchs hingeben. Die Würfel sind in dieser Welt immer schon gefallen. Nein, mit der Laufzeit braucht man bei The Northman gar nicht erst anfangen. Und Dramaturgie braucht es auch nicht — nicht im klassischen Sinne.

Belà Tarrs Meisterwerk „Satanstango“ / © artificial eye/Mokép

Deren Mechanik langweilt ohnehin nur noch. Alles ist überbestimmt. Jeder Teil einer Geschichte bekommt ihren Platz und jeder Satz sein klares Gewicht. Vor allem den neueren Marvel-Filmen wie Morbius wird diese Vorhersehbarkeit der Wendungen und der durchgetakteten Bilder zum Verhängnis. Am letzten Spider-Man-Abenteuer war sicher nicht die Länge das Problem. Vielmehr dieser unerträglich vorhersehbare Fanservice. Eine bestimmte Laufzeit schafft Raum und Möglichkeiten, andere Filme zu drehen. Man muss sie aber einzusetzen wissen. Dabei muss man ja nicht so weit gehen wie Lav Diaz mit A Lullaby to the Sorrowful Mystery (Laufzeit 482 Minuten, und Lav Diaz kann noch länger), Bela Tarr mit seinem berüchtigten Satanstango (Laufzeit 450 Minuten) oder gar Jacques Rivette mit Out1 (760 Minuten). Schließlich ist es gar nicht so leicht die Zeit für solche Monumente zu finden.

Doch — und darum geht es letztlich — ist ein Film kein Service am Zuschauer. Es ist die Vision von Künstler*innen, für die Zeit auch ein Stilmittel sein kann. Bereits im Vorfeld zu jammern geht fehl. Vor allem wenn man ein Filmkritiker ist, denn solche subjektiven Kriterien gehen immer am Film vorbei.

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