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Kolumnen

Zärtliche Rebellion

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Vor 60 Jahren – am 27. Oktober 1955 – feierte Nicholas Rays Coming-of-Age-Drama …denn sie wissen nicht, was sie tun seine US-Premiere. Der 1931 geborene Hauptdarsteller James Dean konnte den Erfolg des Werks nicht mehr miterleben; er war wenige Wochen zuvor, am 30. September, bei einem Autounfall gestorben

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Trailer-Screenshot aus "...denn sie wissen nicht, was sie tun" von Nicholas Ray
Trailer-Screenshot aus "...denn sie wissen nicht, was sie tun" von Nicholas Ray

Als zorniger und zugleich zärtlicher Rebell verkörpert Dean in „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ eine Figur, die bis heute zu den schönsten, anrührendsten und eindrücklichsten im gesamten Adoleszenzkino-Kosmos zählt. Aber warum ist das so? Und welche würdigen Nachfolger_innen gab es im Laufe der Zeit?

Ein Teil der Antwort auf die erste Frage liegt gewiss im Aufbegehren des Protagonisten Jim Stark gegen seine Eltern – und in seiner tiefen Verzweiflung über die Ansichten und das Verhalten in dieser verdammt lieblosen Erwachsenenwelt: „You’re tearing me apart!“, brüllt Jim, als sich sein Vater, seine Mutter und seine Großmutter in einer weiteren „Was-fehlt-dem-Jungen-eigentlich?“-Diskussion gegenseitig ins Wort fallen und dabei mit jeder Silbe, jedem Blick und jeder Bewegung ihre Ratlosigkeit, aber auch ihren Konformismus und ihre scheußlich-kleingeistige „Was-sollen-denn-die-Nachbarn-sagen!“-Denkweise offenbaren.

Als Zuschauer_in im Teenageralter ist man in solchen Momenten ganz und gar nicht der Meinung, dass Jim ein Rebell ohne Grund ist, wie es der Originaltitel Rebel Without a Cause insinuiert. Denn im Gegensatz zu Johnny Strabler – dem anderen großen, jugendlichen Fifties-Revoluzzer, den Marlon Brando zwei Jahre zuvor in Der Wilde darbot – würde Jim auf die Frage, wogegen er eigentlich rebelliere, nicht mit einem saloppen „Whadda you got?“ antworten. Er würde vielmehr etwas von gegenseitigem Respekt erzählen, den er bei seinen Mitmenschen vermisst. Er würde über die Liebe sprechen, die nichts von Unterdrückung und Erniedrigung an sich haben sollte (wie er es bei seinen Eltern beobachtet). Und er würde begreiflich machen, wie wichtig es ist, seinem Gegenüber zuzuhören, sich einzufühlen und sich in jeder Situation gegenseitig Halt zu geben.

Dies führt direkt zum zweiten Teil der Antwort auf die Frage, weshalb Jim bis zum heutigen Tag ein außergewöhnlicher Charakter des Coming-of-Age-Kinos ist: Jim belässt es nicht dabei, das mangelnde Verständnis und die fehlende Liebe seines Umfeldes zu beklagen – er gründet kurzerhand eine „Ersatzfamilie“, in der sich jene Wärme spüren lässt, die in allen anderen Familien und Gruppen des Films nicht vorhanden ist. Zum einen freundet er sich mit dem jüngeren, queer anmutenden Außenseiter Plato (Sal Mineo) an; zum anderen verliebt er sich in die gleichaltrige Judy (Natalie Wood), die zwar zur In-Crowd der Schule gehört, aber nicht minder verstört und einsam ist. Wenn sich dieses Trio, das durch Jims Offenheit zueinanderfindet, im dritten Akt in eine verlassene Villa zurückzieht, entsteht für kurze Zeit eine Art locus amoenus: ein Ort der Harmonie, der liebevollen Alberei und der verbalisierten sowie ausagierten Gefühle.

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(Trailer zu …denn sie wissen nicht, was sie tun von Nicholas Ray)

Was Jim also letztlich zu einer besonderen und zeitlos-großartigen Rebellenfigur macht, ist nicht etwa die lässig im Mundwinkel hängende Zigarette oder die Teilnahme an gefährlichen Mutproben, sondern die Tatsache, dass er in einem Umfeld, welches von ihm ein stetes „Funktionieren“ (in der Familie) sowie Härte (im Highschool-Mikrokosmos) verlangt, nach Zärtlichkeit sucht – und bereit ist, diese ohne Vorbehalte all jenen zu geben, die ihrer ebenso bedürfen.

Um die zweite Frage nach ähnlich beeindruckenden Nachfolger_innen zu beantworten, möchte ich den Blick zunächst einmal auf meine eigene Filmsozialisation richten. Ich war in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren ein Teenager – und fand in den Kinofilmen dieser Zeit nur selten eine mit Jim Stark vergleichbare Figur der juvenilen Rebellion. Die Figuren, die mir präsentiert wurden, waren entweder zu uninteressant-glatt (wie der öde Schönling Zack Siler und das mit einer Brille „verunstaltete“ Hübschgesicht Laney Boggs in Eine wie keine) oder zu einfältig (wie Jim Levenstein, Michelle Flaherty und die übrige peinlich-pubertäre American Pie-Truppe), zu stylish-kaputt (wie das intrigante Stiefgeschwisterpaar Sebastian Valmont und Kathryn Merteuil in Eiskalte Engel) oder schlichtweg zu sehr damit beschäftigt, vor maskierten Killern oder anderen Gefahren davonzulaufen (wie Sidney Prescott und ihre Scream-Clique sowie die unzähligen Teens in den vielen, vielen Nachahmer-Werken).

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(Trailer zu Eiskalte Engel von Roger Kumble)

Glücklicherweise gab es aber Ausnahmen. Zum Beispiel Patrick Verona (Heath Ledger), Kat Stratford (Julia Stiles) und Cameron James (Joseph Gordon-Levitt) in 10 Dinge, die ich an Dir hasse: Während Patrick und Kat den Mut haben, nach dem Motto des Joan-Jett-Songs „Bad Reputation“ zu leben und wahrlich not a damn darauf zu geben, was ihre oberflächlichen Mitschüler_innen von ihnen halten, ist Cameron vor allem deshalb eine wunderbare Figur, weil er sich beharrlich weigert, sich dem Kastendenken der Highschool zu unterwerfen. Eine weitere Ausnahme begegnete mir in der Gestalt von Jane Burnham (Thora Birch), die in American Beauty über sich selbst und den Nachbarsjungen (Wes Bentley) einen der einprägsamsten Sätze meiner Jugend sagt: „We’ll always be freaks and we’ll never be like other people.“

Auch das deutsche Kino dieser Zeit machte dank damaliger Jungstars wie Robert Stadlober, Tom Schilling oder Daniel Brühl ein paar vereinzelte gute Angebote (von denen Crazy das beste war) – während aus dem skandinavischen Raum mit Elin Olsson (Alexandra Dahlström) und Agnes Ahlberg (Rebecka Liljeberg) zwei formidable junge Frauen auf der Leinwand erschienen, deren Rebellion in Raus aus Åmål die lesbische Liebe ist, die in der gruseligen Provinz, in welcher die beiden wohnen, natürlich als gehöriger Skandal wahrgenommen wird. Eine diesem Duo ebenbürtige Liebesrebellin spielte Natasha Lyonne 1999 in der Satire Weil ich ein Mädchen bin: Trotz elterlicher Einweisung in ein Umerziehungs-Camp (!) entwickelt die Schülerin Megan Bloomfield amouröse Gefühle für ihre Leidensgenossin Graham (Clea DuVall) – und ist so was von nicht bereit, diese vor irgendwem zu verstecken.

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(Trailer zu Weil ich ein Mädchen bin von Jamie Babbit)

Nicht zuletzt gab es da noch zwei Figuren aus Gregg Arakis Nowhere (dem Abschlussteil der sogenannten Teenage Apocalypse Trilogy). Der fulminante Indie-Film lief Anfang 1998 in Deutschland – aber natürlich in keinem Kino in meiner Nähe. Die VHS-Kassette versuchte ich dann vor allem deshalb so hartnäckig aufzutreiben, weil ich damals schwer in die skandalumwölkte Seriendarstellerin Shannen Doherty verliebt war. Wie sich herausstellen sollte, dauert deren Auftritt in Nowhere circa eine Minute, da die von ihr verkörperte Figur leider rasch von einer umherwandelnden, mit Laserpistole bewaffneten Gummikostüm-Echse eliminiert wird – so schnell kann’s gehen! Meine Enttäuschung darüber war jedoch alsbald dank Dark Smith (James Duval) und „Dingbat“ (Christina Applegate) verflogen. Ersterer trottet betrübt durch die verrückt gewordene Welt, die ihn umgibt, und sucht nach Zuneigung. Als er diese schließlich bei dem rätselhaft-charismatischen Montgomery (Nathan Bexton) gefunden zu haben glaubt, mutiert ebenjene potenzielle große Liebe zu einem außerirdischen, sprechenden Insekt, das ihn achtlos verlässt (was, wie ich finde, bei aller Trash-Tragikomik überaus realistisch ist). Die schmerzhaft linkische, aber schlaue „Dingbat“ ist indes eine Heldin der Pubertät, die auch vor einem kühnen Sprung in den Pool nicht zurückschreckt, um ihren unglücklichen Schwarm „Ducky“ (Scott Caan) für sich zu gewinnen. Eine mit Applegates hingebungsvoller Performance vergleichbare (noch weniger gefälligere und deshalb umso triumphalere) Leistung hatte Heather Matarazzo 1995 als Dawn Wiener in Willkommen im Tollhaus vollbracht, mit der ich eines Nachts im TV-Spätprogramm konfrontiert wurde.

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(Ausschnitt aus Nowhere von Gregg Araki mit Christina Applegate als „Dingbat“ und Scott Caan als „Ducky“)

Dank TV, VHS und DVD stieß ich im Laufe meiner Jugend selbstverständlich auf weitere tolle Rebell_innen – zum Beispiel das Breakfast Club-Quintett aus den 1980er Jahren, das einander beim gemeinsamen Nachsitzen allmählich sein Innenleben anvertraut, ohne dabei Rücksicht auf die üblicherweise geltenden, ungeschriebenen Gesetze des Highschool-Alltags zu nehmen. Und auch in Filmen, die nach meiner Jugend entstanden, entdecke ich hin und wieder würdige Jim-Stark-Nachfolger_innen, von denen ich hoffe, dass sie heutigen Heranwachsenden ebenso viel zu bedeuten vermögen, wie mir einst Agnes Ahlberg oder Dark Smith bedeuteten – etwa der schüchterne, doch couragierte Gabríel (Atli Oskar Fjalarsson) im isländischen Jitters (2010) oder die neugierige Alma (Helene Bergsholm) im norwegischen Turn Me On (2011).

Ein Film, der mich jüngst an …denn sie wissen nicht, was sie tun denken ließ – obwohl in ihm weit weniger geweint oder geschrien und gar nicht geschossen oder gestorben wird und er von gänzlich anderen Dingen erzählt –, war die John-Green-Adaption Margos Spuren (2015), in welcher der Protagonist Quentin Jacobsen (Nat Wolff) nach seiner plötzlich verschwundenen Traumfrau (Cara Delevingne) sucht. Das Engagement, das Quentin in seiner Mission an den Tag legt, vor allem aber die enge Verbundenheit, die in Quentins schräger, kleiner Outsider-Truppe (Austin Abrams, Justice Smith, Halston Sage und Jaz Sinclair) herrscht, zeigen, dass die aufrichtige Zärtlichkeit neben der nervigen Zotigkeit vieler Komödien und dem künstlich wirkenden Kitsch etlicher Romanzen noch immer Platz im Coming-of-Age-Kino hat.

"Margos Spuren"
Bild aus Margos Spuren von Jake Schreier; Copyright: Twentieth Century Fox

Ein Signal, dass ich älter geworden bin, ist wohl die Tatsache, dass mir die Erwachsenenfiguren in einigen Teenagerfilmen inzwischen (mindestens) so sympathisch sind wie die jungen Held_innen – beispielsweise der nette Dad Charlie Swan (Billy Burke) und der väterliche Dr. Carlisle Cullen (Peter Facinelli) in der Twilight-Saga (2008-2012) oder Laura Dern und Sam Trammell als Eltern der Protagonistin Hazel Grace Lancaster (Shailene Woodley) in Das Schicksal ist ein mieser Verräter (2014). Doch so sehr sich meine Sicht auf Geschichten über das Jungsein auch verändern mag – die Innigkeit, die …denn sie wissen nicht, was sie tun und der Protagonist Jim Stark zum Ausdruck bringen, werde ich immer wertschätzen.

Andreas Köhnemann schreibt u.a. für Kino-Zeit.de, spielfilm.de, critic.de und das „Deadline“-Magazin. Seine Begeisterung für …denn sie wissen nicht, was sie tun führte ihn auch schon nach L.A. zum Griffith Observatory, wo er (nach dem Gefühl seiner Begleitung) *stundenlang* das James-Dean-Denkmal fotografierte.

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