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Kolumnen

Über die Schwierigkeit eines freien Blicks

Ein Beitrag von Rajko Burchardt

Jede Begegnung mit Filmen ist vorbelastet durch unseren Wissens- und Erfahrungsschatz, der im Kino zu Reibungen führt, sowie Erwartungen und Ideen, die die Annäherung ans Werk beeinflussen. Profitiert das Filmerlebnis von dieser Herausforderung? Oder braucht es eine notfalls selbst auferlegte Offenheit?

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Es scheint kaum möglich, Filme ohne Erwartungen zu sehen, und mindestens schwierig, daraus keine Bedingungen des Werturteils abzuleiten. Problematisch muss man weder das eine noch das andere finden: Zu- oder Misstrauen kann Voraussetzung aufschlussreicher Auseinandersetzungen mit Filmen sein, das Vorurteil überprüft und produktiv gemacht werden, die vage Idee zur Grundlage einer konkreten gerinnen. Erwartungshaltungen sind so gesehen der erste Schritt sinnlicher Annäherung. Für interessante Diskussionen über Kunst braucht es nur die Bereitschaft, von (vorschnellen) Positionen abzurücken und das eigene Urteilsvermögen zu überdenken.

Vorbehalte als negative Form der Erwartung nehmen ebenso Einfluss wie Vorfreude – auch der Filmgenuss „ganz ohne Erwartungen“ ist schon eine An- bzw. Vorausnahme. Von jedem Film, den wir sehen, haben wir uns zuvor Bild gemacht. Weil ihm sein Ruf vorauseilt oder er auf eine bestimmte Art wahrgenommen wird. Weil wir andere Arbeiten der Macher kennen oder zu kennen glauben, der Künstler sich etwas zuschulden hat kommen lassen oder wir eine Rückbindung an sein Werk befürchten. Und weil wir unsere thematischen, ideologischen und geschmacklichen Präferenzen gern zu einem Päckchen verschnürt ins Kino tragen. Erwartungen formen das Verhältnis zum Werk, ganz gleich, ob sie erfüllt, unterboten oder übertroffen werden. Schwer ließe sich ohne sie überhaupt eine Auswahl treffen.

Man kann wahrscheinlich probieren, den Film und nur den Film allein zu betrachten, sich also Aufgeschlossenheit verordnen und darum bemühen, das Päckchen abzulegen oder vergessen zu machen. Regisseur Klaus Lemke glaubt sogar an das vollkommen unvoreingenommene Erleben. „Man muss in einen Film reinstolpern wie ein Dieb in die Nacht“, sagte er vergangenes Jahr bei einer Veranstaltung des Deutschen Filmmuseums. Man dürfe nicht wissen, was auf einen zukommt, sonst sei es unmöglich, „sich in etwas zu verlieben, das neu für einen ist“. Kritiken lese er deshalb ausschließlich hinterher. „Wenn man über einen Film etwas weiß, sieht man immer nur das, was man schon weiß.“

Lemkes Utopie vom ewigen ersten Kinobesuch klingt verlockend. Mich erinnert sie an einen Freund, der von sich behauptet, er trete jedem Film auf die gleiche Weise gegenüber, nämlich in der Erwartung, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Enttäuschung sei dadurch nicht vorprogrammiert, vielmehr wolle er allen die gleiche Chance geben. Aus reinem Trotz denke ich, dass es bei mir genau andersherum sei, dass jeder Film sich erst einmal hocharbeiten müsse, was natürlich genauso albern ist. Vielleicht aber liegt in solchen Anforderungen ans eigene Filmerleben, im Streben nach Offenheit und dem Glauben an die reine Empfindung, ein ehrwürdiger Versuch, sich gegen unliebsame Arten ästhetischer Filmerschließung abzuschirmen.

 


(Der Zoo Palast in Berlin; Copyright: Sonja Hartl)

So geht es beim Phänomen der „Rezeptionsrezeption“ beispielsweise mit Blick auf eine (oft) mutmaßliche und (selten) tatsächliche „allgemeine“ Wahrnehmung nicht um Wirkungsanalyse, sondern zur Urteilsgrundlage erhobene Scheinbeobachtungen. „Rezeptionsrezipienten“ spekulieren lieber über Reaktionen auf ein Werk, statt über das Werk selbst nachzudenken. Das vermeintliche Wissen um über- oder unterbewertete Filme und die Art, wie sie angeblich verstanden werden oder verstanden werden könnten, soll dann bereits Erkenntnis sein. Und natürlich läuft das Ganze meist auf schlichte Publikumsschelte oder kindische Profilierungszwänge hinaus.

Für Kunst interessiert sich diese vor allem in Online-Zusammenhängen kultivierte und teils mit filmkritischer Aufmerksamkeitsökonomie verzahnte Praxis wenig. Ihre Erwartungshaltung schließt Ergebnisoffenheit aus, Abwehrhaltungen scheinen zum neurotischen Reflex verkommen. Je nach Präsentation und Diktion können narzisstische Gegenstimmen sicherlich Debatten beleben oder zumindest ergänzen – ganz ohne die überraschungsfreien, in ihrer panischen Angst vor Konsens und Mainstream häufig vergnüglichen und manchmal lehrreichen Polemiken eines Armond White oder Richard Brody ginge es schließlich auch nicht. Wie interessant sie sind, steht auf einem anderen Blatt.

„Ich kann keinem Film jungfräulich begegnen“, schrieb Lukas Foerster in seiner Kritik zu Christopher Nolans Dunkirk über (Film-)Erfahrungen, die stets an bestimmte Kontexte gebunden seien. Das Kino habe jedoch „die wunderbare Fähigkeit, mich bis zu einem gewissen Grad aus diesen Kontexten heraus zu reißen, weil es mich in einen dunklen Saal sperrt, auf dem Kinosessel fixiert und nicht mehr von mir verlangt als ein bisschen Aufmerksamkeit und Neugier.“ Klar, Gefallen und Missfallen eines Films lassen sich nicht beschließen. Rezeption ist kein planbarer Vorgang. Und zum Verstehen wie Auslegen filmischer Texte sind „Aufmerksamkeit und Neugier“ unablässig.


(Bild aus Dunkirk; Copyright: Warner Bros. Germany)

Offenheit hat allerdings ihren Preis. Zwei wiederkehrende Diskussionen prägen die deutschsprachige „Facebook-Cinephilie“, den in sozialen Medien vernetzten Kreis debattierfreudiger Kinomenschen. Die eine dreht sich um missliebige Kritiken, genauer ums „verächtliche Geschmacksurteil“, welche das scheinbar unbelastete Filmerlebnis mit „respektlosen Abqualifizierungen“ zunichtemache (siehe Kolumne). Die andere entbrennt regelmäßig an gefühlten oder wirklichen Filmkanons, durch deren Raster zahlreiche interessante und marginalisierte Titel fielen. Den Wortführern dieser Diskussionen geht es um einen geschärften Blick und größere Empfänglichkeit.

Im Zuge dieser Diskussionen ist gleichwohl zu beobachten, wie noble Plädoyers für Wissbegierigkeit schnell in enervierende Rezeptionsvorgaben umkippen – das Anliegen wird zudringlich und die Neugier zum autoritären Gelüst. Aus nachvollziehbarem Unmut etwa über eine Filmgeschichtsschreibung, die weniges hofiert und vieles in Blechdosen verschimmeln lässt, entwickeln sich bloße Reizreaktionen (die Klassikerverbannung als Form von Kanonhysterie). In solchen Fällen sind Erwartungshaltungen bereits unveränderliche Urteile, weil die Problemstellung auch eine Erfüllung privater „Glaubensgrundsätze“ sein will. Von hehrer Offenheit bleibt nur sprödes Distinktionsgehabe.

Es stellt sich die Frage, ob es erstrebenswert ist, aus Kontexten herausgerissen zu werden, statt Kontexte zu reflektieren. Das Ziel eines emphatischen Filmerlebens kann nicht sein, Kino als luftleeren Raum zu begreifen, in dem es lediglich um Affekte geht, die ihn mit Leben füllen. Filmbegegnungen profitieren von einem individuellen Wissens- und Erfahrungsschatz, der uns auf Bilder nicht nur reagieren lässt, sondern erst ihre Übersetzung ermöglicht. Der freie Blick muss immer auch ein kritischer sein, das Verarbeiten filmischer Texte eine notwendigerweise skeptische Überprüfung der vermittelten Eindrücke. Es gibt keine falsche oder richtige Art des Filmesehens, aber zweifellos eine denkfaule.

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