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Kolumnen

Schlüsselerlebnisse im Lichtspielhaus

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Es gibt unzählige Gründe, weshalb ein Kinobesuch unvergesslich sein kann. Im Dunkel des Kinosaals werden wir mit einer Flut von Bildern, Tönen und Emotionen konfrontiert, denen wir uns nicht – wie im sogenannten ‚Heimkino‘ – ohne Weiteres entziehen können.

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Das Coolidge Corner Theatre in Brookline, Massachusetts
Das Coolidge Corner Theatre in Brookline, Massachusetts

Wir setzen unseren Körper und Geist einem Lichtspiel aus, oft in Begleitung und umgeben von anderen Menschen, deren Reaktion auf das gezeigte Geschehen zu einem Teil unseres eigenen Erlebens wird. Zu den eindrücklichsten Erfahrungen dieser Art zählen wohl jene, die eine persönliche Premiere darstellen.

Das Ideal einer Kinosozialisation würde natürlich all die Großtaten der Kinematografie enthalten. In einer perfekten Welt wäre mein erster Kinofilm Charlie Chaplins Der Vagabund und das Kind gewesen, später hätte ich für Setsuko Hara und James Dean auf riesigen Leinwänden geschwärmt; bei meinem allerersten Date wäre Jacques Demys Die Regenschirme von Cherbourg gelaufen und mit meiner ersten großen Liebe hätte ich Pink Flamingos und Secretary als Double Feature erlebt – stets in Gebäuden, die der Bezeichnung ‚Lichtspielhaus‘ tatsächlich gerecht würden. Aber die Realität sieht anders aus; sie besteht unter anderem aus einem animierten Dino-Trupp, einem Adam-Sandler-Vehikel und einem Sandra-Bullock-Flop, präsentiert in sachte verlotternden, schwach frequentierten Schuhschachtelkinos oder seelenlosen, doch gut besuchten Multiplexen. Nun, so ist das eben.

Mein erster Kinofilm war In einem Land vor unserer Zeit, der im Sommer 1989 in Deutschland uraufgeführt wurde. Von meiner Mutter habe ich erfahren, dass meine ältere Schwester, deren Freundin und ich unbedingt in der ersten Reihe sitzen wollten, der Saal beinahe ausgestorben war und es direkt nach der Filmsichtung zum Plüschdino-Kauf in die Innenstadt gehen musste. Ich selbst erinnere mich noch sehr genau an die Figuren der Handlung, insbesondere an den Protagonisten Littlefoot und meine Lieblingsfigur Cera, die ich in ihrem Eigensinn schlichtweg cooler als den Rest der Gruppe fand. Das von Don Bluth inszenierte Werk – eine Produktion der von Steven Spielberg mitgegründeten Firma Amblin Entertainment – ist zugegebenermaßen kein Meisterstück des Kinderkinos; dennoch war In einem Land vor unserer Zeit nicht die schlechteste Wahl für ein erstes Kinoerlebnis. Ein kluger Freund erklärte mir kürzlich, dass aktuellen Animationsfilmen wie dem Minions-Abenteuer jedwede tief reichende Message fehlt. Die jungen Saurier um Littlefoot und Cera waren indes durchaus geeignete Vorbilder, die man ernst nehmen konnte, ohne dass sie dadurch langweilig wurden und ihre Aufsässigkeit verlieren mussten.

In einem Land vor unserer Zeit
Bild aus In einem Land vor unserer Zeit von Don Bluth; Copyright: United International Pictures

 

In den Folgejahren meiner ‚Kinografie‘ durfte ich einige der schönsten Zeichentrickfilme aus den Walt-Disney-Studios kennenlernen, etwa Bernard und Bianca im Känguruland (Anfang Dezember 1991 in Deutschland gestartet), Aladdin (Mitte November 1993) und Der König der Löwen (Mitte Dezember 1994). Auch eine Kinosichtung von Bambi – des Über-Klassikers im Bereich der Kinderunterhaltung und -traumatisierung – war anlässlich einer Wiederaufführung im Jahre 1993 geplant. Hier kam es aber zu einem folgenreichen Missverständnis, durch das wir nicht in der Bambi-Vorstellung, sondern im Bambi-Saal des Darmstädter Rex-Kinos landeten, wo der Realfilm Toys mit Robin Williams lief. Gemessen an heutigen Stoffen wie der Harry-Potter-Reihe ist Toys gewiss recht harmlos; meine damalige heile Dino- und Disney-Welt wurde von der Geschichte über einen fiesen Lieutenant General (Michael Gambon) und dessen erschaffene Spielzeug-Armee jedoch schwer erschüttert – weshalb dieser Kinobesuch zweifelsohne ebenso ein Schlüsselerlebnis war.

Im völlig falschen Film, wenn auch nicht im wörtlichen, sondern übertragenen Sinne, sollte ich mich im Laufe der (Kino-)Zeit noch häufiger fühlen; aus Protest den Saal verlassen habe ich hingegen in all den Jahren nur zweimal: zum einen, als eine offensichtlich sadistisch veranlagte Person das filmische Verbrechen Erkan & Stefan in Der Tod kommt krass in der Sneak Preview programmierte, und zum anderen, als meine Schwester und ich uns einem kaum erträglichen Erbauungskitsch mit dem Titel Der Film deines Lebens ausgesetzt sahen. Kino bedeutet immer auch das Investieren wertvoller Zeit und gedanklicher Arbeit – und in diesen beiden Fällen wäre jede weitere Minute eine ärgerliche Fehlinvestition gewesen.

Zum ersten Mal für eine Filmfigur beziehungsweise die darstellende Person ins Schwärmen geriet ich bei einem Kinobesuch im Sommer 1998. Es handelte sich um die romantische Komödie Eine Hochzeit zum Verlieben. Deren Story lautet, nur unwesentlich verkürzt: Ein Mann (Adam Sandler) und eine Frau (Drew Barrymore) lernen sich auf einer Hochzeit kennen, finden sich gegenseitig toll und werden schlussendlich ein Paar. Von Drew Barrymore und der von ihr verkörperten Julia Sullivan war ich damals sehr, sehr hingerissen. Heute würde ich in meiner Funktion als Filmkritiker sicher anmerken, dass die Figur reichlich naiv gezeichnet ist – aber damals stellte meine eigene Naivität die von Julia Sullivan noch bei Weitem in den Schatten. In meinen Schulordner kritzelte ich irgendwann nach dem Kinobesuch den mäßig geistreichen Spruch „Let your dreams become Drew“; da muss sie also angefangen haben – die Verknüpfung von Kino, Traum und großer Leidenschaft.

Eine Hochzeit zum Verlieben
Bild aus Eine Hochzeit zum Verlieben von Frank Coraci; Copyright: Kinowelt

 

Ein klassisches erstes Kino-Date zu zweit mit ‚zufälligen‘ Berührungen beim Griff in den geteilten Popcorneimer hatte ich nicht. Es stimmt natürlich, dass der Gang in einen dunklen Raum, in dem man still sein soll, ohnehin ziemlich widersinnig ist, um einen Menschen, den man zu mögen glaubt, besser kennenzulernen. Man sollte einen gemeinsamen Kinobesuch als Kennlernmethode allerdings nicht unterschätzen: Wann und wie eine Person etwa über das Geschehen auf der Leinwand lacht oder wie sehr sie sich in die Geschichte hineinziehen lässt, kann einem einiges darüber sagen, ob man mit diesem Menschen mehr Zeit verbringen möchte oder nicht.

Als ich zum ersten Mal mit einer Person, in die ich irgendwie ein bisschen verliebt war, ins Kino ging, war dies ein denkbar profanes Treffen zu fünft; im Kinosaal saßen wir beide nicht einmal direkt nebeneinander. Wir sahen uns als Quintett Rendezvous mit Joe Black an, in welchem der Tod die Gestalt von Brad Pitt annimmt. Pitt und seine Spielpartnerin Claire Forlani werden darin geradezu unerhört attraktiv in Szene gesetzt; ich weiß noch, wie ich dachte, dass Forlani gewiss bald der neue Star am Sternenhimmel von Hollywood sein würde – doch daraus wurde dann leider nichts. Aus meiner Irgendwie-ein-bisschen-Verliebtheit auch nicht.

"Rendezvous mit Joe Black"
Bild aus Rendezvous mit Joe Black von Martin Brest; Copyright: United International Pictures

 

Die ersten Kinobesuche mit meiner ersten Liebe habe ich wiederum sehr positiv in Erinnerung. Auch hier ist es schwierig zu erklären, worin die Faszination liegt, im Rausch des jungen Liebesglücks ausgerechnet das Kino aufzusuchen. Es muss etwas mit der Kombination von Intimität und Öffentlichkeit zu tun haben, die ein Kinosaal bietet. Den Filmen schenkten wir eine (zu) geringe Aufmerksamkeit, was bei komplexeren Erzählungen durchaus problematisch war. Nach unserer gemeinsamen Sichtung des Beziehungsdramas Hautnah waren bei mir nur ein paar überraschende Kraftausdrücke aus dem Mund von Julia Roberts und eine rosafarbene Perücke auf dem Kopf von Natalie Portman hängen geblieben. Als ich mich der dialoglastigen Theateradaption Jahre später noch einmal auf DVD widmete, war es, als sähe ich sie zum allerersten Mal. Bei weniger anspruchsvollen Filmen gab es diese Schwierigkeiten nicht; ich vermute jedenfalls, dass uns bei Miss Undercover 2 trotz gegenseitiger Ablenkung keine essenziellen Elemente verborgen geblieben sind. Damals war ich übrigens fest davon überzeugt, dass dieser Action-Comedy-Nonsens das Ende der Karriere von Sandra Bullock einläuten würde. Als Star-Orakel tauge ich wahrlich nicht viel.

Was Schauspielkunst auszulösen vermag, habe ich vielleicht zum ersten Mal im März 2006 dank der Performance von Michelle Williams in Ang Lees Brokeback Mountain begriffen. Darin gibt es eine Szene, in welcher die von Williams interpretierte Frau ihren Gatten (Heath Ledger) beim innigen Kuss mit einem Mann (Jake Gyllenhaal) sieht – und nicht imstande ist, in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Mit einem einzigen Blick drückt Williams die Tragik eines ganzen Lebens aus. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob dies der erste Kinomoment war, der mich (jenseits der Kindheit) zum Weinen brachte – aber es war ohne Frage der nachhaltigste. Obwohl ich inzwischen darauf gefasst bin, dass mir Michelle Williams mit ihren Darbietungen das Herz bricht, hat sie es doch immer wieder geschafft: Meine Sichtungen von Blue Valentine und Manchester by the Sea waren tränenreiche, bittersüße Erfahrungen, für die ich das Kino auf ewig lieben werde.

Brokeback Mountain
Bild aus Brokeback Mountain von Ang Lee; Copyright: Tobis StudioCanal

 

Es gab noch zahlreiche weitere persönliche Premieren im Kinosaal. Statt in Fotoalben zu blättern oder durch die eigene Facebook-Timeline zu scrollen, ist die Vergegenwärtigung aller einschneidenden Lichtspielhaus-Erfahrungen tatsächlich eine erstaunlich gute Möglichkeit, sich mit seiner Lebensgeschichte und Entwicklung zu befassen. Ich möchte daher dem schlauen Fuchs aus dem kleinen Prinzen ein bisschen widersprechen: Wenn die Augen mit dem Herzen zusammenarbeiten, kann man im Laufe seines Daseins sehr viel Wesentliches entdecken. Nicht nur im Kino.

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