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Kolumnen

Online-Filmkritik und die Ökonomie der Aufmerksamkeit

Ein Beitrag von Rajko Burchardt

In seinem Pamphlet Warum wir Filmkritik brauchen sah Josef Schnelle vor neun Jahren „das informierte und unabhängige Urteil“ durch Internet-Blogs in Gefahr gebracht. Anlass war die Entlassung zahlreicher fest angestellter Filmkritiker bei US-amerikanischen Tageszeitungen, deren ehrwürdige Arbeit in den Printmedien durch unehrwürdige Online-Wortmeldungen zerstört worden sei.

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Nichts schade der traditionellen Filmkritik mehr als die reine Internet-Kritik, lautete Schnelles apokalyptisches Verdikt über den drohenden Paradigmenwechsel. Während die professionelle und demnach gedruckte Kritik „neue Trends und ästhetische Standards“ durchsetze, trieben sich im „Netzversteck hauptsächlich Dilettanten und Abschreiber“ herum.

Das generalisierte Gequengele (veröffentlicht in der Berliner Zeitung, die nach Redaktionsfusion gerade ihre langjährige Filmkritikerin Anke Westphal entließ) provozierte damals viele ungleich nachdenklichere Repliken und wirkt heute wie ein Relikt aus der Zeit, als sich Filmkritik zu demokratisieren begann: Mit Blogs und Netzwerken, in denen Texte von erfahrenen und unerfahrenen Autoren gleichwertig nebeneinander standen, und Online-Magazinen wie -Plattformen, die Ausdrucksmöglichkeiten ohne übliche Zugangsbeschränkungen ermöglichten. Jene von Josef Schnelle beharrlich gezogenen Grenzen zwischen Profi- und Amateurkritik verwischten zugunsten unterschiedlichster Formen und Stile, in deren erweitertem Rahmen cinephile Diskurse auf Augenhöhe geführt werden konnten.

Wenn Filmkritik eine Zukunft hat (was es zu diskutieren gilt, aber wohl komplizierter ist, als es das saturierte Lamentieren über den Bedeutungsverlust der alten Klüngel darstellt), dann liegt sie im Internet. Die virtuelle Kritik machte sich darum gewissermaßen verdient, sie zeigte Schwachstellen der gedruckten auf und ließ deren Normierungen hinter sich. Klassische Meinungstextsorten (Kritik, Glosse, Kolumne) und ihre an Journalismusschulen eingetrichterten Leitlinien wurden um bunte Mischformate und ungeordnete Gedankensammlungen ergänzt. Statt anlassgebunden zu schreiben, können Internet-Autoren auf Entdeckungsreise gehen und gerade dort „neue Trends und ästhetische Standards“ setzen, wo dem Zeitungskritiker nur das Abgrasen hiesiger Kinostarts bleibt.

Online-Kritik also kann frei gestaltet und in alle Richtungen offen sein, kann sich ohne äußere und innere, quantitative und qualitative Vorgaben spezialisieren. In der entsprechend reichhaltigen Netzlandschaft, die sich heute noch weniger verallgemeinern lässt als vor neun Jahren, haben längst auch Feuilletons ihren festen Platz gefunden. Mit Video-Kritiken nähern sich die Internet-Auftritte der Süddeutschen Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Vlog-Strukturen an, überall kann kommentiert und diskutiert werden wie einst nur bei den Blogs und Foren. In Konkurrenz treten weniger die von Josef Schnelle gegeneinander ausgespielten Publikationsformen Print und Internet, als vielmehr Inhalt und Aufmachung der filmkritischen Online-Sektionen selbst.

An dieser Stelle könnte oder müsste man zwischen kommerziellen und unabhängigen Angeboten unterscheiden, würden die Trennlinien dort mittlerweile nicht ebenfalls unscharf verlaufen. Hinter einer scheinbar hobbymäßig aufgezogenen Film-Website können große Publisher stecken, die amateurhaftesten Video-Kritiken auf YouTube in vermarktungsstarke Netzwerke eingebunden sein. Jedem Blog und Magazin ist es möglich, Werbung zu schalten, und sämtliche Online-Inhalte lassen sich monetarisieren, sogar einfache Postings in sozialen Netzwerken. Wie alle Unternehmen haben auch die Filmstudios und Verleiher ein großes Interesse an gesponsertem Online-Content, was den Autoren und Betreibern weitere Einnahmemöglichkeiten bietet.

Auf die vor einigen Jahren noch unklare Frage nach der Wirtschaftlichkeit von Online-Filmkritik geben diese Gelegenheiten zur Selbstoptimierung praktische Antworten und bringen zugleich altbekannte Interessenkonflikte mit sich, etwa die Einflussnahme auf Inhalte und den untransparenten Missbrauch der Kritik als Serviceleistung. Entscheidend sind Abhängigkeiten von Geld- und Auftraggebern, die wiederum mit Abhängigkeiten der Publikation oder des Publizierenden von der eigenen Reichweite zu tun haben. Es geht, kurz gesagt, um den Druck, sich im stetig wachsenden Angebot behaupten müssen. Das US-Branchenmagazin Variety beispielsweise veröffentlicht seine offenbar sehr dringlichen Cannes-Kritiken mittlerweile Absatz für Absatz, noch während sie geschrieben werden.

Das natürliche Bedürfnis, eine große Leserschaft zu erreichen, kann darüber zum absurden Kampf um Aufmerksamkeitsökonomie gerinnen – filmkritische Texte als Klickwettbewerb, den auf höchste Verbreitungskompatibilität hin ausgerichtete Beiträge für sich entscheiden. War das Buhlen um den potentesten Aufmacher in alten Medien noch Titelgeschichten oder verkaufsfördernden Bereichen vorbehalten, betrifft es im Internet auch die vom Kapitalfaktor Reichweite abhängigen Kulturressorts. Die gedruckte Kritik scheint an die Absatzzahlen der Publikation gebunden, in deren Gesamtangebot sie eingebettet ist. Ein Online-Kritiker weiß hingegen sehr genau, in welchem Umfang er gelesen oder geklickt wird. Die über eigene Links ansteuerbaren Inhalte eines Online-Angebots können direkt an ihren Aufrufen gemessen werden.

Alex Ross, Musikkritiker beim US-Magazin The New Yorker, verfasste kürzlich einen Das Schicksal des Kritikers im Clickbait-Zeitalter betitelten Text, in dem er die Abschaffung der Kulturkritik durch den Performancewahn des Online-Journalismus fürchtet. Bedroht seien vor allem die Kritik der darstellenden Künste und ihre an ein spezielles Publikum gerichteten Themen, die Auseinandersetzung mit Nischen und weniger populären Gegenständen von also geringerer Reichweite. „In a cultural-Darwinist world where only the buzziest survive, the arts section would consist solely of superhero-movie reviews, TV-show recaps, and instant-reaction think pieces about pop superstars“, heißt es wütend und mit Verweis auf ein satirisches Video aus John Olivers Late-Night-Show.

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Die großzügige Abdeckung ohnehin sehr marktstarker Themen gegenüber heruntergespielten kleineren Inhalten bezeichnet Alex Ross als „intellektuelles Äquivalent zu Steuersenkungen für Superreiche“. Ein neues Phänomen ist diese Praxis natürlich nicht, jeder Feuilletonredakteur kennt das Ringen um Nischen gerade in den platzarmen Printmedien. Umso weniger leuchtet deshalb ein, dass viele breit aufgestellte Online-Angebote nicht die Vorteile der Internetveröffentlichung erkennen, nämlich mittelfristige Aufmerksamkeit und eine Akkumulation auch durch Pflege des Marginalisierten. Kommerzielle Internet-Kritik kann sich das Solidaritätsprinzip leisten, gut laufende Artikel können schlecht laufende auffangen, statt sie zu ersetzen.

Alex Ross sieht Kritik von Clickbait eliminiert, aber man könnte auch von einer (genauso problematischen) Anpassung sprechen, einer „Verklickköderisierung“ der Filmkritik sozusagen. Nicht wenige Publisher und Autoren setzen im besonderen Maße auf marktschreierische Überschriften, steile Thesen oder unverhältnismäßig garstige Verrisse, die zuverlässig Klicks produzieren und sehr wahrscheinlich „viral gehen“ können. Beobachten ließ sich das zuletzt anhand einer Reihe mehr oder weniger filmkritischer Artikel über La La Land, die den nach Kritiker- und Publikumszuspruch schnell erfolgten Backlash für eine der aufmerksamkeitsökonomischsten Textarten überhaupt nutzten, nämlich die Empörungsschrift.

So sprach das Wochenblatt LA Weekly mit Bezug auf Leni Riefenstahl (!) von einem „Propagandafilm“ des weißen Hollywood, im Paste Magazine wurde seine „unerträgliche Whiteness“ beklagt. Er verstehe modernen Jazz nicht, hieß es bei Vulture, betreibe „whitesplaining“ (MTV) und „mansplaining“ (Los Angeles Review of Books). Am Ende dieser tausend- und hunderttausendfach geteilten Texte konnte man den Eindruck gewinnen, La La Land sei einer der schlimmsten Filme seit Jud Süß. Kurz vor der Oscar-Verleihung erschien dann im britischen Independent noch ein Artikel mit der Überschrift: „Ich bin ein arabischer Schauspieler, der mehr als 30 Mal für Terroristenrollen vorsprechen sollte – wenn La La Land bei den Oscars abräumt, war es das für mich“.

Solche Beiträge erweisen dem Engagement für mehr Diversität in der Kinoindustrie einen ideologiekritischen Bärendienst, aber das ist nicht der Punkt. Sie finden zwar hohe Verbreitung, weil sie praktischerweise in Umlauf gebracht werden sowohl von Befürwortern als auch Gegnern ihrer Thesen, doch sie helfen eigentlich niemandem (den Autoren am allerwenigsten). Ihre diskussionswürdigen Punkte verpuffen in Provokation und Entrüstung, von einer Ergebnisoffenheit der Diskurse kann bei derart letztgültigen Urteilen nicht die Rede sein. Viele filmkritische Debatten werden im Netz auf diesem Niveau geführt, oft mit Reflexen, selten mit Argumenten. Wer gehört, also geklickt werden will, muss sich anscheinend besonders laut Gehör verschaffen.

Sollte Josef Schnelle hier seine schlimmsten Albträume bestätigt sehen, liegt er glücklicherweise noch immer falsch – auch in etablierten Printmedien war und ist der Bullshitfaktor nachweislich groß. Man braucht solchen offenkundig als Verteilungsschleudern konzipierten Texten aber andererseits nicht dabei behilflich sein, die sozialen Netzwerke mit falsch verstandener Filmkritik zu fluten. Schöner wäre es, die Aufmerksamkeiten in andere Richtungen zu verschieben und den Klickködermechanismen der Online-Schreihälse somit ein kleines Schnippchen zu schlagen. „Unter den schönsten Texten stehen keine Kommentare“, schrieb Kino-Zeit-Autor Lucas Barwenczik einmal auf twitter. Das stimmt so natürlich nicht. Aber man bekommt eine Idee, was er damit meinen könnte.

Für die Verantwortlichen kommerzieller filmkritischer Online-Angebote besteht die Herausforderung vielleicht darin, einen Mittelweg zwischen Rentabilität und Selbstanspruch zu finden, auf gute und nicht nur gut laufende Texte zu vertrauen, sich gleichermaßen Raum und Freiheiten für Überlegtes und Abseitiges wie für notwendigerweise Klickkompatibles und Aufmerksamkeitsschaffendes zu gestatten. Leser, das muss klarwerden, gibt es im langlebigen Internet für alles, Texte lassen sich hier auch nach Jahren noch finden und aufrufen, können sich aus den unterschiedlichsten Gründen organisch verbreiten und somit – wenn es denn sein muss – bewähren. Das ist die eigentliche Ökonomie der Online-Kritik. Ihr Wert bemisst sich nicht an der Zahl von Aufrufen, Likes und Shares.

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