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Kommentar

Misery Porn - Was soll das sein?

Ein Beitrag von Christian Neffe

Meinungen
Filmstill zu The Whale (2022) von Darren Aronofsky
The Whale (2022) von Darren Aronofsky

Im Kino gewesen, fast geweint. So ging es mir kürzlich bei „The Whale“, der mich trotz erheblicher Vorab-Skepsis (wie sie bei mir immer aufkommt, wenn Schauspieler*innen in Fatsuits gesteckt werden) kalt erwischt und tief ins Herz getroffen hat. Und offensichtlich ging es auch dem Rest des Kinosaals so: Selten habe ich während und vor allem am Ende einer Vorführung ein derart stilles Publikum erlebt. Ziel erfüllt also, denn genau auf einen solchen Effekt zielt Darren Aronofskys neuer Film unverblümt ab. Auch wenn es freilich nicht alle empfinden. Und das zu Recht.

Dass The Whale polarisiert, überrascht nicht. Es wäre kein Aronofsky-Film, wenn er die Gemüter nicht spalten würde, und manche Vorwürfe sind durchaus berechtigt (die konventionelle Inszenierung etwa), andere diskussionswürdig (Fat Shaming ja oder nein?). Ein Begriff jedoch, der mir in der Nachschau in Meinungen, Rezensionen, Kritiken immer wieder auffiel, sorgte mit jeder weiteren Erwähnung für eine neue Krampfader: Misery Porn. Wer diese zwei Wörter gemeinsam mit dem Titel des Films googelt, kommt auf spektakuläre 500.000 Ergebnisse. Zugleich wurde aber auch eine Frage immer lauter: Was soll das eigentlich sein?

Ein Genre, das sich mit Traumata, mentalem und/oder physischem Missbrauch sowie dem allgemeinen Leiden seiner Protagonist*innen auseinandersetze, lautet die gängige Definition, die man findet. Die ist freilich ziemlich harmlos, denn eigentlich steckt darin (im Gegensatz zu anderen Genre-Betitelungen) etwas zutiefst (Ab-)Wertendes: der Vorwurf, das Werk suhle sich im Leid der Hauptfigur und präsentiere es dem Publikum zu seinem Vergnügen, auf dass es sich daran ergötzen möge.

Derartige Schubladen sind etwas Schönes, wenn man es sich einfach machen will. Auf, rein, zu. Fall abgeschlossen, keine weiteren Gedanken nötig. Misery Porn ist exakt so eine Schublade, ein rhetorischer Mic Drop. Damit scheint alles gesagt, und das Gegenüber hat, so es denn eine andere Meinung hat, gefälligst dagegen anzuargumentieren.

The Whale — Trailer

Gegenfragen: Was ist Misery Porn anderes als ein stark wertender, plakativer und vor allem Headline-tauglicher Begriff für „tiefgreifendes Charakterdrama“? Richtet sich der darin implizierte Vorwurf des Sich-Ergötzens nicht allem voran an ein anonymes Publikum, dem man abspricht, mehr aus dem Film aus ziehen als Faszination am Leid? Ist der fantastische The Father über einen an Demenz erkrankten alten Mann auch Misery Porn? Oder Gasper Noés Vortex mit ähnlichem Thema? Auch die Figuren in diesen Filmen leiden — und doch liest man hier nichts von Misery Porn. Weil beide einen formalistischeren Ansatz wählen, inszenatorisch kunstvoller sind? Weil sie weniger explizit sind?

Anders gefragt: Wo hört Drama auf, und wo soll Misery Porn beginnen?

Zu unscharf und abschätzig ist diese letztlich so hohle Phrase gerade im Falle von The Whale, der dann doch etwas komplexer ist, als dass er in diese Schublade passen würde. Also: Schafft diesen unsäglichen Begriff endlich ab!

Meinungen

Möbius · 22.05.2023

Okay, das ist jetzt das Gegenteil der Intention des Autors, aber ... danke für diesen Begriff!
Endlich etwas, um das deutsche Fernsehen und Phänomene wie "1000 Arten Regen zu beschreiben" richtig zu betiteln.