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Kolumnen

Mehr Wald, mehr Höhle, mehr Ruhe & Donnerdrummel

Ein Beitrag von Rochus Wolff

„Pfui! Pfui!“ In Ronja Räubertochter lernt ein Mädchen die Welt kennen – und streitet sich ausführlich mit seinem Vater. Nicht nur deshalb sollte man den sich noch einmal unbedingt ansehen. Ein paar Gedanken zum Jahresanfang.

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Ich neige über Weihnachten und zum Jahreswechsel zur Nachdenklichkeit. Das ist gewiss nichts, was mich besonders aus der großen Masse heraushebt, auch wenn die Gedanken – die sich gerne in Vorsätzen für das neue Jahr und schmalzigen Filmabenden äußern – vermutlich sehr häufig in Geschäftigkeit ertränkt werden. Jedenfalls hat es bei mir, glaube ich wenigstens, nicht einmal besonders viel mit den konkreten Feiertagen zu tun, die begangen werden, sondern eher damit, dass ich endlich einmal Zeit habe, Gedanken überhaupt ein wenig im Gehirn hin- und herschaukeln zu lassen.

Eltern wissen, vielleicht noch genauer als andere Menschen, wovon ich rede. Vielleicht ist es aber natürlich auch die Jahreszeit: Man kann einfach weniger unternehmen, ist durch Sturm oder Schnee vielleicht sogar im Heimischen gefangen. So wie die Mattis-Räuber in Ronja Räubertochter, den wir heuer zwischen den Jahren mit den Kindern angesehen haben. Als der Winter einbricht und die Wolfsklamm, der Weg zur Burg, nicht mehr passierbar ist, fragte das jüngere Kind: Und was machen sie dann die ganze Zeit?

Zur Antwort sieht man sie in der nächsten Szene essen, tanzen und (nicht immer ganz perfekt) singen, aufs Beste unsere Antwort untermalend: Sie müssen sich halt unterhalten.

Ronja Räubertochter ist ein beglückender Film, und diese Sichtung mit Kindern war eine sehr erhellende Erinnerung daran, was ihn so besonders macht und von vielen anderen Kinderfilmen überdeutlich absetzt. Zuallererst: Der Film lässt sich Zeit. Das heißt nicht, dass er langatmig ist, im Gegenteil – die mehr als zwei Stunden vergehen schnell, aber in dieser Zeit passiert eigentlich gar nicht so furchtbar viel. (Darin ist er einer anderen großartigen Astrid-Lindgren-Verfilmung, Rasmus und der Vagabund, nicht unähnlich; ich habe hier schon einmal für größere Ruhe im Kinderkino plädiert.)

Ronja wird geboren, wir lernen die Räuber kennen, ihr Leben im Sommer und im Winter. Irgendwann wird dann ein wenig Handlung eingeführt – der Konflikt von Räuberhauptmann Mattis mit seinem Rivalen Borka –, die auch ein paar Konflikte und Veränderungen in Gang setzt. Dann geht das Leben weiter, einen ganzen Sommer lang, Streit wird beigelegt, Lösungen werden gefunden… und es geht weiter.

Tage Danielssons Film genügt sich über weite Strecken darin, den Räubern zuzusehen, die Personen kennenzulernen und vor allem: Ronja dabei zu beobachten, wie sie die Welt außerhalb der Mattisburg für sich entdeckt.

Dass sich dahinter im Grunde eine Coming-of-Age-Geschichte versteckt, merkt man eigentlich gar nicht so richtig. Denn mit Ronja bekommt die Zuschauerin ja ebenfalls vor allem die Welt gezeigt: die Wilddruden, die Graugnome und natürlich die Rumpelwichte („Wiesu tut sie su?“). Eine Welt, die vage historisch bekannt vorkommt, und trotzdem magisch angehaucht ist. In der deshalb auch Räuber naiver und freundlicher sein können, als sie es wirklich wären – soviel Phantasiewelt darf sein. Der einzige Überfall der Mattis-Räuber, den wir beobachten können, läuft ohne ernsthafte Verletzungen ab und wirkt eigentlich wie ein großer Spaß, slapstickhaft überzeichnet.

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(Ausschnitt aus Ronja Räubertochter)

Die Landsknechte müssen in dieser Perspektive als Vertreter einer äußeren Ordnung erscheinen, der Besitz über alles geht – sie bleiben vage und abstrakt genug, dass ihre Rolle und Motivation nie wirklich zum Thema werden muss. Zugleich macht aber der zentrale Konflikt des Films – zwischen Ronja und ihrem Vater Mattis – eben auch klar, dass diese Phantasie nur dadurch erhalten werden kann, dass sich auch die Räuber an bestimmte Regeln halten.

Ronja ist ja schon unzufrieden damit, dass die Räuber anderen überhaupt Dinge wegnehmen. Als Mattis Borkas Sohn Birk entführt (mit dem Ronja sich überdies angefreundet hat), um ihn als Druckmittel gegen Borka einzusetzen, ist nicht nur ihr klar, dass Mattis in seinem Eigensinn eine Grenze überschritten hat; allerdings ist nur seine Tochter bereit, sich ihm offen zu widersetzen. Indem sie sich selbst Borka als Pfand ausliefert, macht sie Mattis zeitweise machtlos – und dieser weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Stattdessen verstößt er seine Tochter.

Es ist nicht weit hergeholt, in diesem Film voller starker Charaktere in Mattis den kindischsten unter den Erwachsenen zu lesen; er ist es gewohnt, immer seinen Willen zu bekommen; und es sind allein die Frauen, die ihm den Kopf zurechtrücken, wenn es nötig ist.

Vor allem diese selbständige, dickköpfige Tochter, selbst trotzig und frech und mutig und ängstlich. Die Mattis selbst so erzogen hat – und die vielleicht großartigste Szene des Films zeigt ja, wie sie das erste Mal allein in den Mattiswald geht. Er läuft noch einmal hinterher mit letzten guten Ratschlägen, ein wenig Helikopterpapa, aber er weiß ja gar nicht, wie das gehen soll, dieses helikoptern. Eigentlich will er nur, dass sie auf sich achtgibt – und auf die Welt um sich herum.

„Nimm dich vor den Wilddruden, den Graugnomen und den Borka-Räubern in acht!“ – „Woher weiß ich denn, wer die Wilddruden, die Graugnomen und die Borka-Räuber sind?“ – „Das merkst du schon!“ – „Dann ist ja gut.“ – „Und pass auf, dass du dich nicht im Wald verirrst!“ – „Und was mach ich, wenn ich mich im Wald verirre?“ – „Dann suchst du dir den richtigen Weg.“ – „Dann ist ja gut.“ – „Und pass auf, dass du nicht in den Fluss fällst.“ – „Und was mach ich, wenn ich in den Fluss falle?“ – „Dann schwimmst du!“ – „Dann ist ja gut.“ – „Und pass ja auf, dass du nicht in den Höllenschlund fällst!“ – „Und was mach ich, wenn ich in den Höllenschlund falle?“ – „Dann machst du gar nichts mehr!“ – „Dann ist ja gut. Dann werde ich eben nicht in den Höllenschlund fallen. Sonst noch was?“ – „Den Rest wirst du selber merken.“

Das ist der Dialog zwischen einem Vater, der seiner Tochter alles zutraut, und einer Tochter, die sich alles zutraut. Das ist, ganz nebenbei, ein Erziehungsratgeber in einem Absatz. Dass der gleiche Vater dann doch nicht damit umgehen kann, dass Ronja tut, was sie für richtig hält, steht auf einem anderen Blatt; am Ende ist er es, der am meisten aus dieser Auseinandersetzung lernt, der am Konflikt mit seiner Tochter wächst. Fast wie im richtigen Leben.

Mutter Lovis hingegen behält zwar äußerlich die Ruhe, aber ihr Besuch in Ronjas und Birks Höhle, als der Herbst sich langsam nähert, beweist vor allem: Sie hatte immer alles im Blick, und hat ihre Ronja dennoch machen lassen. Es ist die vielleicht erwachsenste Form von Elternschaft, die man im Kinderkino finden kann.

Und genauso erwachsen ist dieser Kinderfilm, der 1985 auf der Berlinale einen Silbernen Bären „für einen Film von besonderer Phantasie“ verliehen bekam. Nicht verquast, nicht verschämt. Die Natur, magisch angehaucht und grandios in Szene gesetzt, steht eh noch mehr im Zentrum des Films als die Menschen, die dafür auch mal nackt durchs Bild laufen, in Schnee und Wasser. Schon dafür scheint die Gegenwart heute zu verklemmt zu sein – für die Freiheitsgedanken des Films vielleicht noch mehr.

Man denke nur an das allerdings insgesamt eher grässliche, noch recht frische Remake von Elliot, das Schmunzelmonster als Elliot, der Drache: Hier findet der Film sein tröstliches Ende, als der Junge Pete aus einer Höhle im Wald endlich seinen Weg in die „zivilisierte“ Welt der menschlichen Kleinstadt findet und dort heimisch wird. Und nun habe ich gar nichts dagegen, dass meine Kinder schön zivilisiert leben und sogar lernen, wie man das Besteck neben die Teller platziert. Aber irgendwann müssen sie flügge werden; und dann wäre es mir lieber, sie wären stark und frech und selbstbewusst wie Ronja, die Räubertochter.

(Rochus Wolff)

Rochus Wolff sucht in seinem Kinderfilmblog nach dem schönen, guten, wahren Kinderkino; das findet er gelegentlich in der Vergangenheit, aber auch die Gegenwart hält zahllose wunderbare Überraschungen bereit.

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