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Kolumnen

Lasst freie Liebe um uns sein

Ein Beitrag von Rochus Wolff

Ein Krippenspiel in einer evangelischen Kirche, mitten in Berlin-Kreuzberg. Es ist ein paar Jahre her. Um uns herum die seinerzeit typische Kreuzberger Familienwelt: Viele alternativ angehauchte Kleinfamilien im Stadium beginnender grüner Spießigkeit, aber alle weit entfernt von der bürgerlichen Kleinfamilie der 1960er.

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Auf der Bühne sagen die Kinder meist etwas abwesend ihre Sätze auf, wir sind bei der Verkündigung. Der Engel überbringt die frohe Kunde von ihrer Schwangerschaft, und Maria sagt den sehr auswendig gelernten Satz: „Wie kann das denn sein, ich bin doch noch gar nicht verheiratet!“

In meiner Erinnerung fiel der ganze Saal nach diesem Satz in mühsam unterdrückte Heiterkeit, aber das kann natürlich täuschen — aber bestürzend war schon, wie präzise die Kirchengruppe mit diesem Statement die Realität ihrer Gemeinde ignorierte — bei einem Saal voller Kinder, von denen grob geschätzt die Hälfte unehelich geboren worden war, wie man das früher nannte.

Worauf ich hinauswill: Fiktion kann sich sehr entschlossen der gesellschaftlichen Realität versperren, riskiert dann aber, nicht nur lächerlich zu wirken sondern sich zugleich zum Agenten der Reaktion, gar Regression zu machen. Und entsprechend irritierend ist es manchmal, wie gleichförmig die Familien- und Beziehungsmodelle in Kinderfilmen meist noch sind.

Gewiss, die heterosexuelle Kleinfamilie mit Mama, Papa und Kind(ern) ist im deutschen Sprachraum immer noch in der Mehrheit, und man wird inzwischen auch so manchen Kinderfilm finden, in denen Alleinerziehende (meist Mütter, aber auch das spiegelt ja die Realität) auftauchen. Etwas irritierend ist aber doch, dass die Erziehung durch nur ein Elternteil fast konsequent als defizitäres Modell präsentiert wird und nur selten wertfrei eine Variante unter vielen ist. (Der ansonsten gänzlich grässliche Die Dinos sind los! ist da ein jüngeres Beispiel, in dem das ganz gut funktioniert; und in Die geheime Mission, heuer auf der Berlinale gezeigt, lebt der Protagonist Karl ganz selbstverständlich allein mit seiner Mutter.)

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Trailer zu Die Dinos sind los!

 

Ähnlich konservativ präsentieren sich die meisten Kinderfilme in Sachen Arbeitsteilung in der Familie. Nur selten werden die klassischen Geschlechterrollen so konsequent umgedreht wie in dem niederländisch-belgischen Alfie, der kleine Werwolf, in dem der Mann daheim von Kochen bis zu Reparaturarbeiten alles übernimmt, während die Frau das Geld verdient — oder bei Kletter-Ida, deren Vater zwar eine Kartbahn betreibt, aber die Mutter bringt als Sicherheitsexpertin einer Bank offensichtlich das Geld nachhause.

Immer wieder also finden sich solche etwas Familien- und Lebensformen im Kinderfilm wieder, und natürlich bin ich schon dankbar, wenn Geschlechterrollen nicht so reaktionär daherkommen wie in Arielle die Meerjungfrau oder den Barbie-Filmen. Was aber im Kinderfilm -nicht nur in Deutschland, sondern, soweit ich das überblicke, auch weltweit — praktisch völlig fehlt, sind nicht-heterosexuelle Beziehungsmodelle oder auch nur Bezugspersonen.

Zwar gibt es inzwischen einige auch hervorragende Filme, die sich mit der sexuellen Identität und Orientierung von Heranwachsenden beschäftigen — der ganz hervorragende Tomboy etwa, Mein Leben in Rosarot oder The Blossoming of Maximo Oliveros. Unter diesen sticht der (eher an Teenager gerichtete, aber sehr mitreißende) 52 Tuesdays hervor, der die sexuelle Selbstfindung der jugendlichen Protagonistin verhandelt, die sich mit der Geschlechtsumwandlung ihrer Mutter auseinandersetzt. Allen diesen Filmen ist aber gemein, dass sie Geschlecht und Sexualität ausdrücklich zum Thema haben und damit implizit als potentiellen Konfliktstoff präsentieren.

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Trailer zu 52 Tuesdays

 

Was ich aber will: Kinderfilme, in denen Homosexualität und Bisexualität, flüssige Geschlechtergrenzen und Lebensformen jenseits geschlossener Zweierbeziehungen auch und ganz selbstverständlich vorkommen, in denen die Variation einfach eine Glücksform neben der vermeintlichen Norm darstellt. Weil nämlich die Welt da draußen mit dieser „Norm“ nur wenig zu tun hat — die Realität besteht aus einer Vielfalt von Lebens- und Liebesformen, und diese zu kennen und zunächst wertfrei als gleichwertig betrachten zu können unsere Kinder zu besseren, liebenderen Menschen machen kann.

Nur selten gibt es Beispiele dafür. Der Schneemann Olaf in Die Eiskönigin — Völlig unverfroren ist, nicht nur aufgrund der deutschen Synchronisation von Hape Kerkeling, eine ziemlich eindeutig als queer identifizierte Figur (wie sich überhaupt der ganze Film, nicht zuletzt sein Originalsoundtrack, als homosexuelle Ermächtigungsgeschichte lesen lässt). Die Minions aus den Ich — Einfach unverbesserlich-Filmen, allesamt durch ihre Namen männlich konnotiert, werden für die von ihrem Chef Gru aufgenommenen Waisenmädchen zu so etwas wie einer rein männlichen Familie.

Weniger versteckte Bezüge sind schon selten. Dazu zählt etwa Tokyo Godfathers, in dem eine Drag Queen zu den drei Surrogateltern gehört, die sich eines Kindes annehmen, oder die schwedische Komödie Patrik 1,5, in der ein schwules Paar statt des erwarteten Kleinkindes einen homophoben, gewalttätigen Jugendlichen als Pflegekind aufnimmt — aber das sind Beispiele, die sich auch nur bedingt als Kinderfilme empfehlen.

Und selbst, wenn ich ein wichtiges Gegenbeispiel übersehen haben sollte (ich freue mich über entsprechende Hinweise in den Kommentaren!) — es gibt offenbar praktisch keine (keine!) Kinderfilme, in denen Homosexualität und alternative Beziehungsformen als einfach nur normale, wertfrei neben dem Hetero-Mainstream existierende Realität auftauchen. Im Kino sehen unsere Kinder eine stromlinienförmige Welt, in der das Glück der Liebe allzu gleichförmig erscheint. Welch Armut.

(Mit Dank an die zahlreichen Hinweisgeber_innen!)

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