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Kolumnen

Heldinnen und ihre Wunden

Ein Beitrag von Rochus Wolff

Wie viele andere Eltern in den letzten Tagen auch, haben wir vor kurzem mit den Kindern Zoomania gesehen.

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Ein Film, der sich ein wenig ans Osterfest schmiegt mit seiner überzeugenden Protagonistin Judy Hopps, Häsin, beste Absolventin ihres Jahrgangs und erstes Nagetier in der Polizei von Zoomania. Und in ihrer Kombination von puscheliger Niedlichkeit, nicht nachlassendem Optimismus und Kampf für Recht und Gesetz eine ziemlich überzeugende Identifikationsfigur für junge Kinogänger.

Officer Hopps ist damit eine nur langsam wachsende Minderheit im Kinderkino – denn dort stehen wie im „großen“ Kino meist Jungs und Männer im Vordergrund. Als ich anlässlich des Weltfrauentags eine kleine Liste mit wirklich guten Kinderfilmen zusammengestellt habe, in denen starke Mädchenfiguren im Fokus stehen, war ich wider besseren Wissens wieder einmal überrascht, wie mühsam es war, einige Titel zusammenzubekommen. (Auch wenn die Liste durch kluge Kommentare dann doch noch ein wenig länger wurde.)

 

Die Heldin macht ihr Drama nur selbst

Zoomania ist zudem dadurch auffällig, dass der Film das Thema Sexismus (und stärker noch Rassismus sowie darauf fußende Vorurteile) in den Fokus seiner Handlung rückt und kindgerecht aufbereitet, ohne großes Gewese und ohne erhobene Zeigefinger (oder Pfoten). Und noch eine andere Sache ist mir aufgefallen, die Judy Hopps so besonders macht: Sie bringt kein Trauma, kein Drama, keine ernsthaften Verletzungen mit.

zootopia-Hopps_Trailer.jpg Copyright: The Walt Disney Company Germany GmbH

 

Hopps entstammt einer völlig intakten (sehr vielköpfigen) Hasenfamilie und will einfach nur Polizistin werden, weil sie … naja, weil sie will. Dahinter steht viel Gerechtigkeitssinn (etwas, was Kinder sofort nachvollziehen können, den haben sie nämlich meist auch) auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, seinen Traum unbedingt umzusetzen. Das ist natürlich eine sehr amerikanische Selbstverwirklichungsphantasie – aber sie beruht eben nur auf Hopps‘ Charakter, nicht auf einem Trauma oder einem Verlust, der sie antreibt.

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Gerade für Polizistinnen im Film ist das keineswegs die Regel: Mehr als ihre männlichen Kollegen haben Gesetzeshüterinnen im Kino (vor allem im Actionkino) dunkle Geheimnisse, unverarbeitete Vaterkomplexe und ähnliche Hintergrundgeschichten. Dass so eine Figur nur mit dem schlichten Willen antritt, der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen, hat Seltenheitswert. Da scheint es nahe zu liegen, dass sich Drehbuchautor_innen ihre Heldinnen oft nur traumatisiert vorstellen können.

Neben dieser Geschlechter-Komponente sind Traumata und Verluste aber natürlich auch Topoi des Erzählens, die sich auch in großer Zahl im Kinderkino wiederfinden. Als ich mich vor einiger Zeit in dieser Kolumne über die allzu brav-intakten heteronormativen Familien im Kinderkino aufregte, erinnerten mich viele Leser_innen an die zahllosen toten oder abwesenden Eltern – vor allem Mütter – in den Mainstream-Kinderfilmen, nicht zuletzt bei Disney: von Findet Nemo über Baymax – Riesiges Robowabohu, von Arielle, die Meerjungfrau bis Die Schöne und das Biest.

 

Wo sind all die Mütter hin?

Dieses Phänomen ist so evident und sichtbar (und ich war offenbar so blind), dass die Journalistin Sarah Boxer ihm vor zwei Jahren einen langen Artikel im The Atlantic widmete: Why Are All the Cartoon Mothers Dead? Boxer argumentiert, dass die tote (oder abwesende) Mutter sich nicht nur von den Märchen in die aktuellen Animationsfilme fortgesetzt habe, sondern nun verstärkt von Vätern ersetzt werde, die letztlich problemlos und erfolgreich die Leerstelle füllten, die vorher da war. Dabei schmeißt sie leider eine ganze Menge Beobachtungen in einen Topf, die en détail dann doch ein wenig unterschiedlich sind – und kommt so zu einem Schluss, der letztlich nicht trägt.

Aber es stimmt: Fehlende Eltern sind – hallo Verlust, hallo Trauma! – ein Topos des Kinderfilms. Das liegt schon deshalb nahe, weil ein solcher Verlust, narrativ gesprochen, natürlich bestens dazu geeignet ist, um eine ganz neue Entwicklung in Gang zu setzen: ein Erwachsen(er)werden innerlich, eine Reise äußerlich. Erzählerisch ist dieses Handlungskonstrukt daher auch ein wenig faul, und dass meist die Mütter fehlen, nicht immer die Väter, passt dann auch in dieses Muster: Weil es implizit die bestehende Geschlechterordnung reproduziert, in der davon ausgegangen wird, dass die emotionale Bindung an die Mutter enger ist als an den Vater. Eine tote Mutter hat also mehr „Effekt“ auf die kindliche Hauptfigur.

Historisch darf man vermuten, dass die toten Mütter in den Sagen und Märchen Westeuropas wohl recht banal auf der hohen Sterberate im Wochenbett, will sagen: auf Lebenswirklichkeit, beruhten. Zugleich wird die tote Mutter (oft noch im Kontrast zur „bösen Stiefmutter“) natürlich zu einer Idealvorstellung überhöht – mangels Leben kann sie auch keine Fehler machen. So werden selbst in den Mutterfiguren noch einmal die beiden Pole durchexerziert, zwischen denen das Frauenbild historisch gerne oszilliert: Heilige und Hure – perfekte Mutter, bösartige Stiefmutter.

Viele Disney-Filme, die Boxer kritisiert, nehmen nun diese Märchen auf und variieren sie; es lassen sich aber eben auch leicht viele Beispiele finden, in denen Mütter und Eltern – ob abwesend oder nicht – schlichtweg keine Rolle spielen. Und so verhält es sich ja auch bei aktuellen Filmen mit Kinder-Hauptrollen: Erwachsene spielen nicht selten überhaupt nur untergeordnete Rollen.

 

Was aber suchen wir?

Auch wenn ich das Phänomen jetzt recht pauschal unter „erzählerische Faulheit“ subsumiert habe: Natürlich würde es sich lohnen, bei den vielen einzelnen Filmen genauer hinzusehen, wie, warum und mit welchen Folgen wer gestorben, verschwunden oder irgendwie anders abwesend ist.

Die viel interessantere Frage ist aber vielleicht doch, warum diese Geschichten einen so dominanten Platz in unserer Wahrnehmung einnehmen und warum sie bis heute so erfolgreich sind. Es gibt Geschichten von starken Müttern und Töchtern, von Magierinnen und Entdeckerinnen, von Kämpferinnen und denen, die einfach nur ein bisschen mehr Gerechtigkeit herstellen wollen – man muss sie aber oft genug suchen.

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Da hilft oft die Erweiterung des Horizonts. Ein Blick auf afrikanische Erzählungen etwa, oder – um das offensichtlichste Beispiel zu nennen – ins japanische Kino. Hayao Miyazakis Filme etwa flirren vor interessanten, sehr präsenten Frauenfiguren. Das beginnt beim womöglich kindertauglichsten, Ponyo – Das große Abenteuer am Meer, und endet noch lange nicht bei Chihiros Reise ins Zauberland oder Prinzessin Mononoke. Da dienen Wunden nicht als Motivation für Entwicklung, sondern sind Teil davon – manche heilen und manche bleiben als Erinnerung an eigene Fehler besser schmerzhaft. Etwas Ähnliches lernt auch Judy Hopps. Es ist fast wie im richtigen Leben. Kino kann so toll sein.

Mit Dank an Marcel für viele Hinweise.

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