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Kolumnen

Haus voller Wunder und Geheimnisse

Ein Beitrag von Rochus Wolff

*Willkommen in Gravity Falls*. Hier finden Sie Kinder mit Herz, Mut und seltsamen Hobbies. Disney hat eine der besten Kinderserien der letzten Jahre im Übergang zwischen den Dimensionen geparkt.

Meinungen
Willkommen in Gravity Falls
Willkommen in Gravity Falls

Fernsehserien für Kinder haben nicht unbedingt den besten Ruf. Ich selbst sollte das gewissermaßen aus professioneller Perspektive differenzierter sehen und tue mich schon schwer damit, so stark drängt sich auf den Bildschirmen der Eindruck auf, da gehe es viel zu laut, viel zu bunt und viel zu schreiend zu.

Aber es ist eben auch eine recht weltfremde Meinung, zu glauben, die Veränderungen im seriellen Erzählen, die sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt haben – schleichend auf den Bildschirmen, mit Wucht schließlich in den Streamingdiensten –, blieben aufs Fernsehen für Erwachsene beschränkt. Es war genau genommen schon immer so, dass auch Kinderserien große Geschichten zu erzählen wussten – subtil, differenziert und komplex, lehrreich, je nachdem. Man denke an Luzie, der Schrecken der Straße oder, ganz anders, Es war einmal … das Leben. An vermeintlich harmlose, heimlich subversive Puppenshows wie Die Fraggles oder großartige historische Geschichten wie Die langen großen Ferien.

Es war einmal... das Leben; Copyright: Studio Hamburg Enterprises
Es war einmal… das Leben; Copyright: Studio Hamburg Enterprises

Und nun gibt es ausgerechnet vom Unterhaltungsgiganten Disney, dessen Fernsehsender man geradezu als Verkörperung meiner negativen Vorurteile ansehen kann (laut, grell, viel zu schnell für meine alten Augen, ach, diese Jugend von heute!), eine Serie, die alles Großartige vereint, was man sich vom TV der Gegenwart nur wünschen mag – sie ist sogar schon ein paar Jährchen alt, aber jetzt mit allen zwei gloriosen Staffeln auf Netflix verfügbar.

 

Durchgeknallt, pointiert und anders, als du denkst

Die Trickfilmserie Willkommen in Gravity Falls verbindet einen mainstream-tauglichen Mystery-Plot mit sehr nerdigen, aber liebenswerten Figuren, cleveres serielles Erzählen, das von der ersten Folge in Staffel 1 bis zum großen Finale am Ende von Staffel 2 immer dichter und komplexer wird, und brillant versteckte popkulturelle Anspielungen zu einer einzigartigen Melange. Was leicht so düster hätte werden können wie Stranger Things ist stattdessen eher (der Titel lässt es erahnen) schräg und mysteriös wie Twin Peaks, aber zugleich eine hell leuchtende, sehr, sehr witzige Serie für etwas ältere Kinder und begeisterungsfähige Erwachsene. Mit Zombies.

Wobei diese schon in der ersten Folge dann eben nicht vorkommen: Denn Alex Hirsch, der die Serie erfunden hat, spielt erst einmal mit Erwartungen und Stereotypen im Kopf seiner Figuren. Die zwölf Jahre alten Zwillinge Dipper und Mabel Pines müssen die Sommerferien statt daheim in Kalifornien bei ihrem Großonkel (abgekürzt: „Gronkel“) Stan verbringen, der tief in den Wäldern von Oregon in der Nähe des Örtchens Gravity Falls ein Kuriositätenkabinett betreibt – ein Haus voll seltsamer Objekte und angeblich magischer oder gar außerirdischer Artefakte, für das er natürlich reichlich Eintritt nimmt. In den USA nennt man solche Orte wie den „Mystery Shack“ dann „roadside attractions“, also kleine Sehenswürdigkeiten für die Menschen auf Durchreise.

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Dipper hat aber schnell das Gefühl, dass in Gravity Falls wirklich etwas nicht ganz stimmt – vor allem nachdem er ein seltsames Buch findet, das übernatürliche Phänomene im Ort und seinen Wäldern beschreibt. Als seine Schwester vom örtlichen Friedhof einen seltsam leblos wirkenden Verehrer mitbringt, vermutet Dipper sofort einen gefährlichen Zombie hinter dem jungen Mann im Hoodie. Er bricht auf, um seine Schwester vor dem Untoten zu retten – und muss ihr stattdessen dabei helfen, der Zwangsverheiratung mit einem ganzen Stamm Gnome zu entgehen, die Mabel zu ihrer Königin machen wollen.

 

Die schönsten Pullover dieser Welt

Willkommen in Gravity Falls ist voll von solchen Momenten, in denen die Erwartungen des Publikums gedreht werden – und ergänzt das durch brillant erzählte kleine (und zunehmend große) Geschichten, durch viel Wortwitz und vor allem seine großartigen Figuren. Nur selten findet man kindliche Charaktere von solcher Komplexität in einer primär sehr lustigen Kinderserie.

Dipper scheint über weite Strecken der Serie die Handlung voranzutreiben: Seine Suche nach den Geheimnissen von Gravity Falls, vor allem durch das Notizbuch angetrieben, schiebt oft genug die Handlung einzelner Geschichten an. Vor allem aber ist er – Gravity Falls ist immer, in jeder einzelnen Folge, auch ein wenig Coming-of-Age-Geschichte – ein Junge, der gerne schon älter wäre, der sich in die etwas ältere Wendy verliebt, die in Stans „Mystery Shack“ arbeitet, der sich fragt, was eigentlich einen richtigen Mann ausmacht. In mehreren Folgen geht es, zwar sehr explizit, aber nie pädagogisch, sondern eher so durchgeknallt wie pointiert um Männlichkeit, um Gefühle und all das, was einen Fast-Teenager beschäftigt; die Serie schafft es sogar, völlig organisch eine ganze Episode über „Pickup Artists“ einzubinden, also jene Männer, die meinen, man könne Frauen mit bestimmten Tricks reihenweise ins Bett kriegen und sollte sie dabei möglichst wenig als vollwertige Menschen betrachten.

Willkommen in Gravity Falls; Copyright: Disney/Super RTL
Willkommen in Gravity Falls; Copyright: Disney/Super RTL

Wenn es irgendeines Beweises bedürfte, dass solches Verhalten in Gravity Falls nicht belohnt wird, dann gäbe es das in Dippers Zwillingsschwester Mabel: Sie ist das wunderbarste Geschöpf in diesem großartigen Kosmos. Selbstbewusst, sehr albern, mutig und wesentlich stärker in sich ruhend als ihr womöglich ein paar Millimeter kleinerer Bruder. Mabel schwärmt in einem Moment für alle Mitglieder einer sehr generischen Boyband gleichzeitig und schwingt sich im nächsten, alle Gefahren missachtend, an einem Enterhaken aus dem Fenster. Darüber hinaus liebt sie Einhörner und trägt die großartigsten Pullover seit Erfindung dieses Kleidungsstückes.

Man könnte sich noch stundenlang über die beiden freuen, oder auch über die Nebenfiguren. Da ist natürlich Gronkel Stan, der zunächst vor allem grimmig, unfreundlich und geizig wirkt – und mit jeder Folge an Tiefe und Komplexität gewinnt, bis er eine der liebenswertesten und selbstlosesten Figuren der Serie wird. Sein Gehilfe Soos (Kosename für Jesús), ein Slacker im Geiste wie in Körperform, aber gutmütig und treu. Und schließlich die bereits erwähnte Wendy, in die Dipper sehr verschossen ist – eine patente, sehr gelassene Teenagerin mit eigentümlichen Freunden, und eine weitere großartige Frauenfigur neben Mabels etwas jüngeren Freundinnen Candy und Grenda.

 

Bis zum Ende der Welt

Je mehr der ganze Ort Gravity Falls in geradezu interdimensionale Abenteuer hineingezogen wird, desto reicher und diverser wird all das, was wir als Zuschauer_innen zu sehen bekommen. Irgendwann wird klar, dass die beiden unfähigen Polizisten des Ortes nicht nur sehr gute Freunde sind, sondern wirklich nicht ohne einander sein wollen und können, und dass selbst so Antagonist_innen wie Pacifica und Gideon (Mabels Erzfeindin und ihr schleimigster Verehrer) auch andere Seiten haben.

Willkommen in Gravity Falls; Copyright: Disney/Super RTL
Willkommen in Gravity Falls; Copyright: Disney/Super RTL

Man kann Willkommen in Gravity Falls mit allen möglichen, auch politischen Vokabeln bekleben: Die Serie ist feministisch, progressiv, offen für unterschiedliche Identitäten. Aber das geht am Kern vorbei. Der eigentliche Trick in Alex Hirschs Geschichten ist nämlich, dass die Figuren sich aus einer grundlegenden Haltung heraus weiterentwickeln: Der Bereitschaft, empathisch aufeinander zuzugehen. So muss man gar nicht mit allen Monstren kämpfen, seien sie menschlich oder anders: Es reicht oft genug, ihnen zuzuhören und ihnen einen Ausweg aus selbstgewählten Qualen aufzuzeigen.

Füreinander da zu sein: Das ist in allen einzelnen Folgen und auch in seinem grandiosen Finale der Kern, der Dreh- und Angelpunkt dieser Serie. Am Schluss wird es nämlich richtig düster, es droht nicht weniger als das Ende der Welt – aber da werden auch die meisten Kinder schon so viel Vertrauen in die Serie gewonnen haben, dass sie über lange vier Folgen die beginnende Apokalypse aushalten können in der Gewissheit: Nächstenliebe siegt.

Am Ende der zweiten Staffel ist ein großer Sommer in Gravity Falls vorbei, aus den Kindern werden am letzten Sommertag Teenager, und alle sind gewachsen. Und eine kleine Trickfilmserie namens Willkommen in Gravity Falls hat die Kraft, auch erwachsenen, sehr abgebrühten Filmkritikern Tränen des Glücks in die Augen treiben zu können.

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