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Kolumnen

Die neue Idee des Bösen

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Horrorfilme erzählen uns seit jeher vom Bösen – und wie wir es bekämpfen. Wirklich interessant wird es aber meist erst dann, wenn wir das Böse in uns selbst erkennen.

Meinungen
Hereditary - Bild
Toni Collette in "Hereditary – Das Vermächtnis"

Wenn man Horrorfilme mag, gerät man oft und schnell in Erklärungsnot. Wieso denn gerade Horror? Das ist doch voll gruselig/grausam/verstörend – oder total unglaubwürdig/dumm/vorhersehbar! Ja, das stimmt bedauerlicherweise ziemlich oft. Vermutlich muss man sich in keinem anderen Genre durch so viel kinematografischen Unrat wühlen, um gelegentlich mit einem richtig guten Werk belohnt zu werden. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Doch was macht ein Werk zu einem „guten“ Werk? Das ist schwer in Worte zu fassen. Gewiss hat es etwas damit zu tun, ob ein Film mir etwas Neues bietet – beziehungsweise einen neuen Zugang zu etwas Altem findet. Im Bereich des Horrors bedarf es natürlich stets einer Bedrohung. Und es muss Figuren geben, die damit konfrontiert werden.

Etliche Genre-Vertreter begehen den Fehler, das eine oder das andere allzu nachlässig zu zeichnen. Öde Spukgestalten mit austauschbarer Agenda in einem beliebigen haunted house, stumme Maskenmänner ohne Charakter in irgendwelchen Vorstädten oder Hütten im Wald, computeranimierte Monster aus den Tiefen des Meeres oder den Weiten des Alls, die letztlich immer an die Kreationen von HR Giger erinnern, jedoch nie deren Wucht erreichen … Das und Ähnliches genügt mir – und sicher auch vielen anderen – leider nicht, um intensive Spannung zu verspüren. Ebenso vermag das reizvollste Horror-Setting und die schaurigste Gefahr nicht recht zu wirken, wenn ein Personal zum Einsatz kommt, das mich überhaupt nicht interessiert: törichte Nervensägen, deren Handeln ich nicht nachempfinden kann, oder soapig agierende Familienmitglieder, an deren Verhalten mir gar nichts lebensecht erscheint.

 

Menschen in Angst

Was komplexe Horrorfilmfiguren betrifft, fallen mir insbesondere die Protagonist_innen aus den 1970er Jahren ein: etwa die von Ellen Burstyn mit Verzweiflung, Wut und bewundernswerter Energie gespielte Chris MacNeil in William Friedkins Der Exorzist (1973), deren jugendliche Tochter Regan (Linda Blair) plötzlich von einem Dämon besessen ist, oder der wasserscheue, zurückhaltende Chief Martin Brody (Roy Scheider) und seine beiden aggressiveren Mitstreiter Captain Quint (Robert Shaw) und Matt Hooper (Richard Dreyfuss) im Kampf gegen einen sehr gefräßigen weißen Hai (1975).

Ellen Burstyn in Der Exorzist; Copyright: Warner Bros. Entertainment
Ellen Burstyn in Der Exorzist; Copyright: Warner Bros. Entertainment

 

Dies sind Figuren, um deren Wohl ich beim (wiederholten) Zuschauen tatsächlich gebangt habe, da ich mich gänzlich in deren Situationen hineindenken konnte, obschon mein Leben ein völlig anderes ist. Es sind Menschen mit Ecken und Kanten, die eigentlich auch ohne Dämonen oder Haie schon genug glaubhafte, nachvollziehbare Ängste und Probleme haben und nun in Extremsituationen geworfen werden, in welchen sie sich behaupten müssen.

Die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, finde ich ebenfalls klug gewählt. Gewiss ist Der Exorzist in der Entfaltung seiner Geschichte dramaturgisch ziemlich uneben – und gewiss arbeitet Der weiße Hai mit einer offensichtlichen Attrappe und bedient sich einer reichlich übertriebenen Dämonisierung des titelgebenden Tieres. Doch die Art und Weise, wie die Gefahr in das städtische Heim oder den idyllischen Badeort dringt, hat(te) für mich etwas zutiefst Erschreckendes, weil das Umfeld von Chris und Regan beziehungsweise von Martin und dessen Familie individuell ausgestaltet wird. Es ist deren Leben, das hier völlig zerstört werden könnte; es ist deren drohender Verlust, dem sich die Filme ganz konkret widmen.

 

Der (grausame) Zufall möglicherweise

Was indes bei aller ausgefeilten Figuren- und Milieuzeichnung in diesen Filmen bleibt, ist die Zufälligkeit. Statt Chris und Regan oder Martin hätte es auch andere Leute treffen können, die sich mit dem Dämon Pazuzu oder dem hungrigen Killerfisch abquälen müssen. Das Böse hat im Grunde gar nichts mit den Personen, über deren Welt es hereinbricht, zu tun. Alles ist – um es mal ganz salopp zu formulieren – einfach nur richtig blöd gelaufen für das Mutter-Tochter-Duo in Georgetown beziehungsweise den Polizisten in Amity.

Einerseits ist diese Beliebigkeit gruselig, da sie bedeutet, dass auch mich jederzeit eine solche Gefahr (be-)treffen könnte. Doch andererseits hat sie etwas Entschärfendes. Der Dämon kann Regan (oder mir oder euch) ausgetrieben werden; sie ist am Ende wieder eine nette, unschuldige junge Frau. Das blasphemisch und obszön herumschreiende und sich bizarr krümmende Wesen, in welches sie sich verwandelt hatte, war nie wirklich sie selbst. Zwar forderte die ganze Angelegenheit menschliche Opfer und wurde unnötigerweise in der Fortsetzung Exorzist II – Der Ketzer (1977) mit deutlich weniger Schwung wiederholt – aber insgesamt wird mir vermittelt: Die Dunkelheit kann bezwungen werden! Dass Regan das Gute und Pazuzu das Böse ist, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Und auch der Hai kann besiegt werden (und in den Folgeteilen dann noch mal und noch mal …). Er kann aus dem Leben der Brody-Familie bei allem Schaden, den er im Laufe von 4 Teilen zu verursachen vermag, immer wieder verschwinden. Aus diesen Filmen habe ich quasi gelernt: Wenn dich ein Dämon heimsucht, wende dich schnell an einen prominent besetzten Priester; wenn du Begegnungen mit Haien vermeiden willst, ziehe lieber nicht ans Meer.

Robert Shaw, Roy Scheider und Richard Dreyfuss in Der weiße Hai; Copyright: Universal Pictures
Robert Shaw, Roy Scheider und Richard Dreyfuss in Der weiße Hai; Copyright: Universal Pictures

 

Das Böse bin ich – oder nicht?

In wenigen filmischen Fällen ist das Böse so eng mit den Hauptfiguren verbunden, dass die Grenzen auf unbehagliche Weise verwischen. In Carrie (1976) von Brian De Palma entdeckt die Protagonistin das (vermeintlich) Böse in sich selbst – in zerstörerischen Kräften, die im blutigen Finale vielen Menschen das Leben kosten. Das Umfeld von Carrie White (Sissy Spacek) – die fanatisch religiöse Mutter sowie die mobbenden Mitschüler_innen – werden indes derart monströs gestaltet, dass rasch begreiflich wird: Das Böse, das sind eigentlich doch die anderen.

Ähnliches gilt für die facettenreiche Coming-of-Age-Fantastik, in welcher das Vampirische, Werwölfische oder gar Kannibalische im (meist juvenilen) Personal hervorbricht. In Wes Cravens Nightmare – Mörderische Träume (1984) ist die Gefahr in Gestalt von Freddy Krueger zwar im Inneren – im Kopf, in den Albträumen – der adoleszenten Heldin Nancy (Heather Langenkamp), und überdies scheint der Kampf gegen den garstigen Klingenmann ziemlich aussichtslos. Aber dass eine Auseinandersetzung möglich ist, in welcher das Gute dem Bösen tapfer die Stirn bietet (und dass dabei auf die üblichen Klischees zurückgegriffen werden kann), steht zu keiner Sekunde außer Frage. So bleibt mir auch hier bei allem Unbehagen in der Identifikation mit den Hauptfiguren die Gewissheit: Ich stehe zum Glück auf der guten (oder zumindest der eindeutig besseren) Seite.

Sissy Spacek in Carrie; Copyright: United Artists
Sissy Spacek in Carrie; Copyright: United Artists

 

Die Unschuld verlieren

In zwei Filmen, die bei mir und zahlreichen weiteren Zuschauer_innen ein veritables Trauma ausgelöst haben, liegen die Dinge hingegen etwas anders. In ihnen ist alles perfider und durchdringender. Der erste Film ist It Follows (2014) von David Robert Mitchell. Darin erlebt die 19-jährige Jay (Maika Monroe) ihr erstes Mal – um danach von ihrem Sexualpartner zu erfahren, dass er etwas auf sie übertragen hat. „Es“ werde sie nun so lange verfolgen und zu töten versuchen, bis sie „es“ – ebenfalls auf sexuellem Wege – an eine andere Person weitergegeben habe. Sollte diese Person allerdings sterben, kehre „es“ wieder zu ihr zurück. Dabei könne „es“ die Gestalt eines jeden Menschen annehmen.

Unfassbar gruselig ist nicht nur, dass Jay fortan tatsächlich von apathischen Personen (mal fremd, mal vertraut) attackiert wird und damit sämtliche Gewiss- und Sicherheiten für sie wegbrechen – sondern dass Jay selbst zum Bösen werden muss, um das Böse loszuwerden. Wenn sie und ihr Freund Paul (Keir Gilchrist) am Ende des Films durch die suburbanen Straßen laufen, sind sie nicht mehr die Guten, die Schuldlosen. Anders als Regan oder Martin haben sie einen Teil des Bösen in sich aufgenommen. „Es“ mag ihnen (vorerst) nicht mehr folgen; doch „es“ wird fortan immer irgendwie in ihnen sein. Nach der Sichtung von It Follows wurde ich nicht nur (vorübergehend?) zum Paranoiker; die Geschichte ließ mich auch mit der Erkenntnis zurück, dass es Formen des Bösen gibt, die sich nicht vollständig überwinden lassen, die an mir und meinem Umfeld haften bleiben können.

Maika Monroe in It Follows; Copyright: Weltkino Filmverleih
Maika Monroe in It Follows; Copyright: Weltkino Filmverleih

 

Das Hässlichste kommt zum Vorschein

Noch einen kühnen Schritt weiter geht Hereditary – Das Vermächtnis (2018). Das Langfilmdebüt von Ari Aster schlug bereits zu Beginn des Jahres auf dem Sundance Film Festival hohe Wellen – aber das tat Blair Witch Project (1999) seinerzeit auch, um sich dann als enervierende Aneinanderreihung unansehnlicher Wackelkamerabilder zu erweisen, in denen ein unsympathisches Trio durch den Wald irrt und Unsinn redet. Hereditary wird seinem Hype indes gerecht.

Das Werk erzählt von Trauer und Schuld(-gefühlen). Vor allem befasst es sich jedoch mit unseren Abgründen und mit den Dingen in uns, denen wir uns niemals stellen wollen, weil sie uns nicht nur Angst machen, uns nicht nur unangenehm-peinlich und zuwider sind, uns nicht nur unendlich traurig machen – sondern weil sie unser ganzes Leben, all unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unser Selbstbild infrage stellen. Anders als in It Follows ist das Böse hier von Anfang an in den Figuren, ist untrennbar mit ihnen verknüpft.

Wenn Peter (Alex Wolff), der Sohn der zentralen Familie, in seinem Klassenzimmer in einer Glasscheibe sich selbst mit einer diabolisch grinsenden Fratze sieht, lässt sich kaum sagen, welches Gesicht wohl Peters „wahres“ Gesicht ist. In diesem Moment wurde mir in meinem Kinosessel klar, dass das nun wirklich die ultimative Horror-Szene ist: Wenn man vor dem Bösen erschrickt, weil man selbst das Böse ist. Keine Auslöschungsmöglichkeit, keine Abspaltung, noch nicht einmal ein Vorher und Nachher (wie bei It Follows) sind abmildernd denkbar. Beim (US-)Publikum stieß Hereditary – Das Vermächtnis teilweise auf massive Ablehnung; ich gehöre augenscheinlich zu den Menschen, die das Kino als einen Ort der rabiaten Konfrontationstherapie begrüßen.

Alex Wolff in Hereditary – Das Vermächtnis; Copyright: Splendid / 24 Bilder
Alex Wolff in Hereditary – Das Vermächtnis; Copyright: Splendid / 24 Bilder

 

Gewiss gibt es immer noch gelungene Horrorfilme, die nach dem klassischen Gut-Böse-Prinzip funktionieren. Allerdings finde ich diese oft genau dann eher schwach, wenn sie die rigide Dichotomie allzu sehr hervorheben. So zum Beispiel A Quiet Place von John Krasinski. Wenn es darin um den Kampf mit dem eigenen Körper, mit den eigenen Bewegungen und Lauten geht, um den aggressiv-geräuschempfindlichen Aliens nicht zum Opfer zu fallen, ist das Werk überaus stark – da die Figuren auch ihre eigenen Feind_innen sind. Alles, was sie tun, jeder Atemzug, jede Regung, jeder Ton, kann gegen sie arbeiten. Wenn hingegen in der Kollision mit den feindlichen Außerirdischen voller Pathos selbstlose Heldentaten verübt werden oder in der Schlusseinstellung grimmig das Gewehr entsichert wird, um entschlossen ins Gefecht zu ziehen, sind das enttäuschend leere Leinwand-Posen, die mir überhaupt nichts geben.

Ein Hai muss in der heutigen Kinolandschaft leider mindestens ein Megalodon sein, um noch als filmisches Spektakel ins Rennen geschickt zu werden (siehe The Meg); ein Dämon muss inzwischen meist schon viral gehen, um noch als Schocker angepriesen zu werden (siehe etwa Blumhouse präsentiert: Wahrheit oder Pflicht). Dabei reichen doch nach wie vor minimale Mittel aus, um uns im Innersten zu erschüttern – wenn es um die Angst vor uns selbst geht. Nach (Horror-)Filmen dieser Art werde ich selbstverständlich weiter suchen – und mir auf der Suche danach sicher wieder etlichen unspannenden Quatsch ansehen müssen.

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