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Kolumnen

Die irrelevante Qualität des Films

Ein Beitrag von Rajko Burchardt

Filmkritik kann nicht objektiv sein, sondern nur die Vielfalt ihrer Perspektiven nutzbar machen. Wenn es jedoch um handwerkliche Fragen geht,  werden auch cinephile Diskussionen von Qualitätsbegriffen bestimmt, die Allgemeingültiges im Diffusen suchen.

Meinungen
Bohemian Rhapsody von Bryan Singer
Bohemian Rhapsody von Bryan Singer

62 Schnitte in 82 Sekunden, jemand hat genau mitgezählt. Es geht um eine Szene aus dem Film Bohemian Rhapsody, die auf Twitter tausende Male geteilt wurde. Sie zeigt Queen-Sänger Freddie Mercury und dessen Bandkollegen im Biergarten, wo ihnen ein Musikmanager erklärt, dass er sie groß machen werde. „Objektiv schlecht“ sei die Szene, spottet der übers Kino bloggende Verfasser des Tweets, sogar Ahnungslose würden das erkennen. Die Oscarnominierungen, darunter eine für Cutter John Ottman, könnten nur ein schlechter Scherz sein.

Tatsächlich mutet der Ausschnitt sonderbar an. Die albernen Perücken schreien Karneval ebenso wie Rami Maleks übertrieben wirkende Zahnprothese. Das auffällig hohe Schnitttempo vermittelt den Eindruck einer unräumlichen und notdürftig zusammengeflickten Szene, in der sich offenbar weder das Gesagte noch das Gezeigte sinnvoll zueinander verhalten. Nichts sei schwerer zu drehen „als vier Personen, die am Tisch sitzen, jeder auf einer anderen Seite“, sagte einmal Regisseur Ang Lee. Die Herausforderung bestünde darin, alle Figuren ins Bild zu bekommen, ohne es zu zerhacken – also 62 Schnitte in 82 Sekunden möglichst zu umgehen.

Ungleich mehr als der Film Bohemian Rhapsody (den ich nicht gesehen habe) interessieren mich die am Tweet und seinen Reaktionen sichtbar gewordenen unterschiedlichen Auffassungen von gutem Kino. In meiner Filterblase wurden längst nicht nur Schnitte gezählt oder Häme ausgeschüttet, sondern ebenso das vermutlich auf Grundlage bestimmter handwerklicher Vorstellungen gefällte Urteil angezweifelt. Widerspruch gab es beispielsweise von einem Filmkritiker, mit dessen Hang zur Betrachtung von Einzelmomenten statt größeren Ideen und Zusammenhängen auch eine Skepsis gegenüber vermeintlich generalisierbaren Qualitätskriterien einherzugehen scheint.

Obwohl mir die verlinkte Szene in ihrer kontextlosen Form selbst absurd vorkommt, habe auch ich Zweifel an gewissen filmkritischen Clustern, deren strichlistenartiger Werkszugang mit größter Selbstverständlichkeit dargeboten wird. In sozialen Netzwerken lässt sich vor allem auf Kanälen, die popkulturelle Rundumschläge fürs spürbar männliche Publikum produzieren, eine sprachlich und methodisch unveränderlich wirkende Neigung zur eng gefassten Bewertung beobachten. Dort ist Experte für Filmmontage, wer schon mal YouTube-Videos oder einen Podcast geschnitten hat. Und fast jeder meint unsägliche Begriffe wie Pacing nutzen zu müssen.

Allerdings geht es nicht um Kompetenzen. Würde man fragen, was überhaupt ein guter Schnitt ist und wie vernünftiger Rhythmus aussehen sollte, kämen dabei wahrscheinlich nur Allgemeinplätze herum. Die Idee der korrekten Machart muss das Konkrete scheuen, weil sich ihre Annahmen nur unter der Voraussetzung einer bestimmten regelkonformen Menge verallgemeinern ließen (nicht mal das aktuelle Hollywoodkino ist dafür ausreichend gleichförmig). Vielleicht erklärt sich somit jene Gefälligkeit, die vor allem in besagten Kanälen zur Einigung auf immer gleiche Namen und Titel führt – jede Abweichung von der Idee befremdet.

Siegfried Kracauer; Gemeinfrei
Siegfried Kracauer; Gemeinfrei

Für Siegfried Kracauer war es „unnötig, sich bei technischen Dingen aufzuhalten“. In seiner Theorie des Films sollten „Probleme der Filmtechnik […] nur dann berührt werden, wenn dies im Interesse von Fragen, die über das rein Technische hinausgehen, erforderlich ist“. Ein Film, der „interessante Aspekte physischer Realität auf technisch unzulängliche Art wiedergibt“, weil er „ungeschickt belichtet oder fantasielos geschnitten“ ist, könne interessanter als das vorbildlich gefertigte Gegenstück sein. „Solch ein Film [ist] in spezifischerem Sinne ein Film als einer, der sämtliche technischen Hilfsmittel und Tricks virtuos zu einer Darbietung verwendet, die der Kamera-Realität keinerlei Rechnung trägt.“

Kracauer hielt die Frage nach der technischen Beschaffenheit deshalb nicht für irrelevant, im Gegenteil – formale Qualität entscheide über ein „gewisses filmisches Gepräge“. Allein zur Bedingung machte er sie nicht. Die Überhöhung einer diffusen Qualitätsanschauung zum Glauben daran, wie es technisch gemacht zu sein habe, wird ohnehin dort in Widersprüche geraten, wo sie über vermeintliche Anomalien stolpert, etwa in Form der zahlreichen künstlerischen Erneuerungsbewegungen des Kinos, deren Zusätze oder gar Umbrüche von Filmsprache, ästhetische Experimente und generelle formale Impertinenz als Angriffe gewertet werden mussten.

Darin zeigt sich der konservative Kern, den ein solches Qualitätsverständnis haben kann. Nicht nur werden die Schwierigkeiten eines freien Blicks durch Selbstbeschränkungen verstärkt, da Filme nun Vorgaben zu erfüllen und der objektivierten Auffassung von Könnerschaft zu entsprechen haben, sondern die Praxis kann auch zu wirklichen Irrtümern führen. Ein dafür oftmals peinliches Beispiel sind sogenannte Filmfehler, ferner auch Kontinuitätssprünge und vermeintliche Logiklöcher, bei denen das Beharren auf angeblichen Handwerksregeln, die Selbstverpflichtung zur Kohärenz und das Verlangen nach Intentionalisierung (der Überzeugung, wie etwas gemeint sein müsse) eine lästige Allianz bilden.

So führen die eigens zur kleinlichen Auflistung scheinbar ungewollter Patzer gegründeten „Filmfehler-Communities“, von denen es im Internet mehr gibt, als man annehmen möchte, auch solche Irritationsmomente unter ihren Fehlern, die Martin Scorsese in Filmen wie Shutter Island oder The Wolf of Wall Street unmissverständlich als Teil der dargestellten Welt erkennbare Realitätsbrüche inszenierte. Wenn der vorgebliche Filmfehler als Konzeption und somit künstlerische Absicht sogar bei einem (wegen Mafia- und anderer Kultfilme) für unantastbar gehaltenen Oscarpreisträger Unvermögen genannt wird, dürfte es bei Exploitation-Regisseuren umso mehr falsche Gewissheit geben.

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Es braucht also wirksame Gegenmittel, ein cinephiles Begehren zum Beispiel, das Engstirnigkeit mit Neugier kontert. Sicherlich offenbart sich manchen reine Meisterschaft, wo andere nur Schludrigkeit sehen, und das kann so frustrierend wie lehrreich sein. Die Kanonisierung des Kinos ist unter einigen Cinephilen ja auch deshalb so verhasst, weil sie von dominanten Qualitätsideen bestimmt wird. Im Zweifel gilt ihr Interesse nicht den Könnern, die offenbar nahtlos arbeiten und alles zusammenhalten wollen, sondern der Lust am Auseinandergehen, den Poesien unbesungener Außenseiter, deren Filme gewissermaßen Sehnsuchtsorte sind, frei von Normierungszwängen. 

Nachvollziehbar scheint mir daher auch die Skepsis gegenüber ironischen Konzepten wie dem Guilty Pleasure, dessen Genuss hinter vorgehaltener Hand das Gegenteil von cinephiler Sehnsucht ist. Vielleicht lässt sich nur über absolute Direktheit begreiflich machen, „dass ein Film auch dann gut sein kann, wenn er nicht zuerst handwerklich gelungen ist“ (Georg Seeßlen). Dieses Gelingen, so Seeßlen in der epd Film, „ist gar kein rein technischer, sondern ein ideologischer Maßstab. Er orientiert sich einerseits an einem Realismusbegriff, der in anderen Kunstformen längst überwunden ist, aber andererseits auch an einem Make-Believe, das weniger die perfekte denn die akzeptierte Illusion als Abbildungsmaßstab zulässt.“

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Cinephiles Begehren ist jedoch nicht als Absage an die Kritik zu verstehen. Darauf muss hingewiesen werden, weil die Selbstverordnung von Offenheit gelegentlich zur beliebigen Affirmation gerinnen kann (auch das nämlich ist Teil der Cinephilie: als Begeisterung apostrophierte Antiintellektualität) und außerdem nichts gegen persönliche Präferenzen spricht. Wer das mutmaßlich oder tatsächlich Misslungene offenkundiger Fähigkeit vorzieht, steht nicht automatisch auf der richtigen Seite – genauso wie ein Faible für bestimmte Filme und deren Eigenschaften noch lange keine Checkliste ist.

Wohin der Verzicht auf Orientierungspunkte, also auch solcher, die die Machart des Films berühren, führen kann, zeigt sich an jenem Teil einer insbesondere jüngere Menschen ansprechenden Online-Filmkritik, der nur noch eigene Wahrheiten zu kennen scheint. Dort ergibt sich aus der filmgeschichtlichen auch die -technische Uninformiertheit, ein Interesse für Produktionsästhetik gibt es gleich gar nicht. In dieser Tristesse lässt sich dann eine Analyse von Filmen behaupten, obwohl lediglich postmodern-ideologiekritische Pamphlete aufgetischt werden. Schlichte Meinungen, nicht zu verwechseln mit Auseinandersetzung.

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