zurück zur Übersicht
Kolumnen

Den Osten wirklich sehen

Ein Beitrag von Olga Galicka

Zum dreißigsten Jubiläum des Mauerfalls blickt Olga Galicka in ihrer Kolumne auf zwei Langzeitdokumentarfilme aus der DDR zurück, die einen Alltag zeigen, den Filme wie „Goodbye Lenin“ oder „Sonnenallee“ nicht zu vermitteln vermögen.

Meinungen
Wittstock, Wittstock
Wittstock, Wittstock

Nach den Ergebnissen der Landtagswahl in Thüringen ist der gesellschaftliche Aufschrei wieder groß gewesen. Man würde den Osten Deutschlands nicht verstehen. Die Beweggründe der Menschen in den neuen Bundesländern werden in diesem Zusammenhang gerne als völlig unzugänglich dargestellt. Der Fall der Mauer jährt sich in diesen Novembertagen zum dreißigsten Mal. Zwar gleichen sich die Lebensverhältnisse und Ansichten von Menschen in den alten und neuen Bundesländern immer weiter an, dennoch scheint doch immer wieder ein Unverständnis zurückzubleiben. Die Zeitungen titeln häufig über den geheimnisvollen Osten Deutschlands, den man gerne verstehen würde und der sich einem aber immer wieder verschließt. 

 

Wie es war

Dass viele westdeutsche Bürger ihre Nachbarn aus der ehemaligen DDR nicht zu verstehen scheinen, liegt mitunter daran, dass man nur sehr wenig über den Alltag in der DDR weiß. Im Schulunterricht wird die Geschichte der DDR nur am Rande behandelt. Zeitzeugenberichte werden nur selten herangezogen. Auch dadurch entsteht ein Gefühl der Fremde. Gerade die visuellen Eindrücke der DDR, die wir heute kennen, stammen aus Film und Fernsehen. Beliebte Filme wie Das Leben der Anderen, Bornholmer Straße, Jenseits der Mauer, Good Bye, Lenin! oder Sonnenallee zeigen nur wenig alltägliches Leben in der DDR. Drei der fünf Filme sind kurz vor dem Mauerfall angesiedelt. Das Leben der Anderen zeigt eine philosophische Parabel, konstruiert zwischen einem querdenkenden Künstlerpaar und einem Hauptmann der Stasi — eine wenig alltägliche Situation. Sonnenallee und Good Bye, Lenin! leben hingegen von kitschigen Ostkultur-Requisiten, die beim Zuschauer ein fragwürdiges Gefühl der (N)ostalgie erwecken sollen. Unter anderem auch bei Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind. Um den echten Alltag ganz einfacher Menschen geht es in diesen Filmen jedoch nicht.

Vielleicht ist das genau der fehlende Schlüssel zu einem emphatischeren Umgang mit den Erfahrungen der neuen Bundesländer. Dabei geht es mir nicht darum, einen Dialog mit den Rechtswählern dieser Bundesländer zu eröffnen. Vielmehr glaube ich, dass man durch ein besseres Verständnis der historischen Vergangenheit der neuen Bundesländer auch zu einem besseren Umgang mit ihnen gelangen könnte. Denn es gibt sie, die visuellen Dokumente dieser Zeit. Es sind vor allem zwei DDR-Langzeitdokumentarfilme, die leider immer mehr in Vergessenheit geraten: Winfried und Barbara Junges Kinder von Golzow (1961-2007) und Volker Koepps Wittstock-Zyklus (1974-1997). 

 

Der Alltag vor politischer Kulisse 

Fast 50 Jahre lang, weit in die 2000er hinein, begleiten die Filmemacher Winfried und Barbara Junge die Kinder von Golzow. Die Lebensgeschichten der Protagonisten werden durch die Jahre hindurch in kleinen Porträts beleuchtet. Die Kinder von Golzow sind 1961 eine Klasse bei ihrer Einschulung, achtzehn von ihnen werden bis zum Schluss der Reihe begleitet. Und tatsächlich, man schaut zu, wie sie sich durch das Leben in der DDR schlagen. Die Probleme der jungen Menschen mögen ähnlich zu ihren westdeutschen Gegenstücken sein: Liebe, Kinder, berufliche Orientierung, der Tod der Eltern. Doch diese Lebensereignisse spielen sich vor der Kulisse eines Landes im ständigen Umbruch ab. Die Zuschauer erleben mit, was mit den Menschen passiert, als es 1989 zur friedlichen Revolution kommt und wie das Leben der Protagonisten ins Wanken gerät. Sie stellen sich einer Welt, die sie nicht wirklich verstehen. 

Volker Koepps Wittstock-Zyklus ist jedoch mein klarer Favorit unter den beiden Projekten. Koepp vermag es eine Intimität zwischen Protagonisten und Zuschauern aufzubauen, die in Dokumentarfilmen auf dieser Ebene nur selten gelingt. Koepp erzählt die Geschichte einer ostdeutschen Textilfabrik aus der Perspektive von drei dort arbeitenden Frauen. Die Protagonistinnen Elsbeth Fischer, Edith Dahlke und Renate Lust werden durch unterschiedliche Lebensphasen begleitet. Der Alltag im Sozialismus wird von Koepp noch radikaler dargestellt. Er schafft es durch vermeintlich harmlose Fragen, das Versagen einer Planwirtschaft abzubilden. Man erlebt die Konflikte zwischen Fabrikleitung und Arbeiterinnen, mangelnde Qualitätsstandards, die Frustration der Frauen, aber auch ihr enge Verbundenheit untereinander. Am Ende des Zyklus im Jahr 1997 scheinen alle Träume zerplatzt. Die Fabrik muss schließen. Während Edith mit ihrem Mann nach Süddeutschland auswandert und von nun an unter Heimweh leidet, müssen Renate und Elsbeth sich mit Gelegenheitsjobs und Arbeitsamtmaßnahmen herumschlagen. 

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

 

Das geht nicht gut

Vorher war vieles schlecht, doch jetzt ist auch nichts gut, so stellt es Renate, die älteste der drei Frauen dar. Renate sitzt in ihrem Wohnzimmer, mit Ende fünfzig muss sie nach einer leitenden Position in der Fabrik als “Zimmermädchen” in einem Hotel arbeiten. “Das geht nicht gut”, sagt sie, als Koepp sie auf die gesamtdeutsche Zukunft anspricht. Sie wollten das System verändern, aber jetzt hätten sie sich “die Sklaverei” aus dem Westen importiert. Renate spricht von einem Bürgerkrieg, der noch kommen wird. Renates Tochter hält sich dabei hinter der Kamera vor Scham die Hände vors Gesicht. Dazu kann Renate nur müde lächeln: das macht nichts, sagt sie, die werden schon noch sehen. 

Vielleicht gibt es am Ende des Zyklus auch ein bisschen Hoffnung. Elsbeth hatte früher geträumt, einmal nach Bulgarien zu fahren. Das ist nie passiert. Doch da will sie Ende neunzig auch nicht mehr hin. Viel lieber würde sie nun einmal Griechenland sehen.

Vielleicht sehen wir in diesen Filmen wirklich etwas, das man schon vor Jahren genauer betrachten hätte sollen. Es sind zwei tragische Filmreihen, die einen wichtigen Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte zeigen. Denn wie Menschen im geteilten Deutschland auf der östlichen Seite gelebt haben, geht uns alle etwas an. Es ist unsere Geschichte und nicht nur die, der neuen Bundesländer. Zum 30. Jubiläum des Mauerfalls kann man Koepps Zyklus kostenlos bei der Bundeszentrale für politische Bildung online ansehen. Ich möchte jeden Anhalten, es zu tun. Wer glaubt, ihm reiche auch nur ein kurzer Einblick (und der reicht nicht), sollte sich zumindest den letzten Teil des Zyklus Wittstock, Wittstock (1997) in der Mediathek ansehen. Denn es jährt sich jedes Jahr am 9. November nicht nur der Mauerfall, sondern auch die Reichspogromnacht. Und diese Ereignisse an einem Tag geben uns allen eine besondere Verantwortung, ganz genau auf unsere Geschichte hinzuschauen. 

Meinungen