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Kolumnen

Das Potenzial im digitalen Horror

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Im September 2017 schrieb Lars Dolkemeyer eine Kolumne auf kino-zeit, in welcher er konstatierte, dass es bisher in Filmen zumeist nicht gelinge, einen digitalen Horror zu erzeugen. Es sei noch immer gruseliger, wenn sich das Lebendige, das nicht lebendig sein darf, im Analogen zeige – etwa in Super-8-Aufnahmen in Sinister (2012) oder in einer Diaprojektion in der aktuellen Stephen-King-Adaption Es.

Meinungen
Bild aus "Personal Shopper"
Bild aus "Personal Shopper"

In Teilen stimme ich ihm da zu; dennoch sehe ich in einigen Werken der jüngeren Zeit durchaus auch wirkungsvolle Versuche, den Horror im Digitalen filmisch einzufangen, oder erkenne zumindest das Potenzial, über das diverse Plots und Umsetzungen in dieser Hinsicht bereits verfügen.

Allen voran muss ich hier Personal Shopper (2016) von Olivier Assayas nennen. Der französische Drehbuchautor und Regisseur erzählt darin von der US-Amerikanerin Maureen (Kristen Stewart), die mit zunehmender Verzweiflung in Paris auf ein Zeichen ihres dort verstorbenen Zwillingsbruders Lewis wartet und derweil als persönliche Einkäuferin für eine Prominente arbeitet. Im Laufe der Handlung tauchen unter anderem ein finsteres Spukhaus sowie der Geist einer zornigen Frau auf; überdies ereignet sich ein blutiger Mord.

Der digitale Horror entfaltet sich indes vor allem während einer dienstlichen Zugfahrt von Paris nach London: Maureen erhält Nachrichten auf ihr Mobiltelefon, die vom (Ex-)Lover ihrer Auftraggeberin stammen könnten oder aber vom toten Lewis. Perfides Stalking oder kryptische Signale aus dem Jenseits – die Protagonistin weiß es nicht und wir ebenso wenig. Bemerkenswert ist, wie das Smartphone – also ein Gerät, das wir laut einer Studie 88 Mal pro Tag einschalten – sowie der uns allen wohlbekannte Vorgang des Hin-und-Her-Schreibens inszenatorisch mit Spannung, Dramatik und Schauder aufgeladen werden. Während Maureen sich zum Pariser Bahnhof und durch den Security-Check begibt, sich einen Kaffee holt und schließlich im Zug sitzt, macht das Telefon immer wieder durch eingehende Nachrichten auf sich aufmerksam. Im Zug kommt es zu einem erstaunlich langen Wechsel zwischen Aufnahmen von Maureens Display und reaction shots, die Maureens Gesicht erfassen. Letztere demonstrieren die Gefühle der Figur – die lähmende Angst, die quälende Ungewissheit und zugleich die leise Hoffnung, ein Zeichen zu erhalten. „R u real?“, tippt Maureen ein – und schickt gleich noch die Frage „R u alive or dead?“ hinterher.

Das Display, das in solchen Momenten gezeigt wird, wird dabei zu mehr als lediglich einer abgefilmten Fläche, auf welcher Kurznachrichten zu lesen sind: Die Meldung „Delivered“, die zu verstehen gibt, dass Maureens Fragen und Äußerungen übermittelt wurden, sowie die sich bewegenden Punkte, die uns und Maureen wissen lassen, dass das rätselhafte Gegenüber etwas schreibt, und der Ton, der über den Empfang einer neuen Nachricht – einer ersehnten Antwort oder auch nur einer weiteren Irritation oder gar einer (Be-)Drohung – informiert, vermögen gerade dadurch, dass uns die Dramaturgie dieser Kommunikationssituation aus unserem durchdigitalisierten Alltag so vertraut ist, Unbehagen und Anteilnahme hervorzurufen. Obendrein geben die Aufnahmen des Bildschirms Einblick in Maureens Psyche – wenn die junge Frau etwa eingetippte Worte wieder löscht, ehe sie diese verschickt, und durch andere ersetzt oder wenn sie beim Eingeben zögert, um dann wieder allzu hastig draufloszuschreiben. In der Gegenüberstellung von Mensch und Bildschirm durch die Schuss-Gegenschuss-Technik sowie durch die präzise Erfassung der vielen Dinge, die zum einen auf einem Smartphone-Display und zum anderen im Antlitz einer Person während eines digitalen Austauschs stattfinden, kann ein Film ein hohes Maß an nachvollziehbarem, effektivem Thrill hervorbringen.

Hinzu kommen die Momente, in denen das Bekannte nicht weniger unheimlich daherkommt als das Unbekannt-Geheimnisvolle. Während in Es die Erwachsenenfiguren – die Väter und Mütter – dem Killerclown Pennywise in puncto Monstrosität in nichts nachstehen und es somit beinahe folgerichtig ist, dass sich das von kindlicher Angst ernährende Wesen an einer Stelle aus einer Diaprojektion herausschält, auf welcher eine Familie zu sehen ist, ist es in Personal Shopper etwa Maureens Freund Gary (Ty Olwin), der als Gesprächspartner in einem Video-Chat mit Maureen ebenso gespenstisch anmutet wie der (CGI-)Geist, dem die Protagonistin in einem alten Haus begegnet. Der junge Mann, der sich beruflich in Oman aufhält, ist für Maureen und uns nur eine verpixelte Gestalt auf einem Computermonitor, deren Züge zudem wiederholt einfrieren. In der Entfremdung hat der Horror – sowohl in Es als auch in Personal Shopper – seinen Ursprung; und in Bildern des Digitalen vermag dies äußerst treffend und nicht selten gruselig zum Ausdruck kommen.

"Personal Shopper"
Bild aus Personal Shopper; Copyright: Weltkino

 

Zahlreiche Horrorfilme scheuen sich allerdings davor, unsere aktuellen Wege der Kommunikation in ihre Geschichten einzubauen – oft gewiss deshalb, weil diese sonst durch einen einzigen An- beziehungsweise Notruf oder eine verschickte Nachricht ein ziemlich schnelles Ende finden würden. Ein supercut auf YouTube mit dem Titel No Signal macht deutlich, wie sehr die bange Erkenntnis, über keinen Handyempfang zu verfügen, zur Standardsituation des zeitgenössischen Genrekinos geworden ist.

Ein Film, der sich hingegen ganz dem digitalen (Ersatz-)Leben junger Leute widmet, ist Levan Gabriadzes Unknown User (2014). Ohne Zweifel ist dessen Inszenierung weit davon entfernt, virtuos zu sein; überdies enthält das von Nelson Greaves verfasste Skript etliche Klischees in der Figurenzeichnung. Gleichwohl lässt sich auch in diesem Werk das Potenzial erahnen, das der digitale Horror hat. Über weite Strecken wird die Idee, sämtliche Geschehnisse auf dem Bildschirm der Hauptfigur Blaire (Shelley Hennig) einzufangen, nur oberflächlich genutzt; dennoch lassen sich auf die von Lars Dolkemeyer in seiner Kolumne gestellte Frage „Wozu das Interface?“ ein paar Antworten anführen: Während sich die Teens und Twens in Erzählungen wie der von Unknown User, in welcher eine juvenile Gruppe von einem rachsüchtigen Geist bedroht wird, meist in einer entlegenen Hütte im Wald oder im suburbanen Nirgendwo aufhalten, um dort oft nur unter Zeugenschaft des Kinopublikums peu à peu dezimiert zu werden, sind die Figuren aus Unknown User dieser Gefahr in einer „Alles ist öffentlich“- und „Jeder sieht zu“-Situation ausgesetzt. Wie in Simon Verhoevens Social-Media-Schocker Unfriend (2016) geht dem tatsächlichen Tod stets der soziale Tod voraus; die Accounts der Jugendlichen werden gehackt, Blaire und ihre Clique verlieren die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung, nichts bleibt dabei verborgen. Überdies müssen sie im Laufe der Handlung den Tod der anderen live mitansehen, ohne eingreifen zu können – und sterben jeweils im Bewusstsein, in den letzten Augenblicken ihres Daseins dem Recht auf Privatsphäre beraubt worden zu sein. Die feindliche Übernahme der Online-Existenz, die im Netz einen unwiderruflichen, das eigene Leben überdauernden Schaden zur Folge haben kann, sowie die Gnadenlosigkeit des Live-Charakters sind Elemente, die eine Art von Horror in sich bergen, den ein üblicher Slasher nicht vorweisen kann.

Unknown User
Bild aus Unknown User; Copyright: Universal Pictures International Germany

 

Ähnliches zeigte sich auch in Nacho Vigalondos Open Windows (2014) – einer modernen Fenster-zum-Hof-Variante, in welcher aus dem Hitchcock’schen Fenster mit Blick auf eine kleine Wohnanlage viele geöffnete windows auf dem Laptop des Protagonisten Nick (Elijah Wood) geworden sind, die Einsicht in sämtliche (un-)denkbaren Winkel des Lebens der B-Movie-Schauspielerin Jill Goddard (Sasha Grey) gewähren, gänzlich ohne räumliche oder moralische Grenze. Sowohl in Unknown User als auch in Unfriend und Open Windows wird außerdem auf ästhetischer Ebene die Reizüberflutung spürbar, mit der sich die Figuren (und auch wir in unserem beruflichen sowie privaten Alltag) konfrontiert sehen.

Insbesondere der Film Nerve (2016) von Henry Joost and Ariel Schulman lässt in seiner Eröffnungssequenz noch eine weitere Gelegenheit des digitalen Horrors erkennen: Ehe die Heldin Vee (Emma Roberts) in ein Online-Spiel gerät, welches ihr immer härtere und riskantere Aufgaben stellt, lernen wir sie an ihrem Schreibtisch vor ihrem Tablet-PC kennen. Wir hören die von ihr ausgewählte Musik, wir sehen ihr Social-Media-Profil und wir erleben mit, wie sie auf Posts anderer Personen reagiert.

Seit jeher hat Musik eine identitätsstiftende Funktion für adoleszente Menschen; das Profil verrät indes zwar nicht unbedingt, wer Vee ist – aber in jedem Fall wer sie gerne wäre, was sie für wichtig hält und wen sie zu beeindrucken versucht. Das ist mehr, als wir über das junge Personal von John Carpenters Halloween – Die Nacht des Grauens (1978), von Sean S. Cunninghams Freitag, der 13. (1980), von Sam Raimis Tanz der Teufel (1981) oder von Wes Cravens Nightmare – Mörderische Träume (1984) sagen können. Eine Einbeziehung des Digitalen könnte die Möglichkeit bieten, die Figuren in Horrorfilmen, die oft allzu stereotyp angelegt sind, mit individuellen Vorlieben, mit persönlichen Vorstellungen von Schönheit, Glück und Coolness auszustatten. Um das Wohl solcher Charaktere dürfte man sich dann gewiss gleich umso mehr sorgen.

"Nerve"
Bild aus Nerve; Copyright: StudioCanal

 

Das Potenzial, das im digitalen Horror liegt, ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Jedoch gibt es mit Personal Shopper bereits einen hervorragenden Vertreter – und in diversen anderen Werken schimmert in einzelnen Passagen immerhin schon durch, was denkbar ist, um gutes kontemporäres Spannungskino zu schaffen.

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