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Kolumnen

Andere Orte der Cinephilie

Ein Beitrag von Lars Dolkemeyer

Wenn über das Sterben der Videotheken und die Zukunft der Cinephilie in den Katalogen der Streaming-Anbieter gesprochen wird, bleibt ein Ort oft unerwähnt. Dabei ist es ein lebendiger Ort, der bleiben wird und den zu besuchen sich immer wieder lohnt: Die Bibliothek.

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Bibliothek
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Zwischen vollen Regalreihen und noch volleren Regalreihen, erfüllt vom leisen Flüsterrauschen gedämpfter Geschäftigkeit, liegt ein wunderbarer Ort, der all jene Menschen anzieht, deren Herzen für ein altes, staubiges und duftendes Medium schlagen: für das Buch. Die Bibliothek ist ein alter Ort für eine alte Leidenschaft, doch das gedruckte Buch hält sich wacker. So wie sich auch die DVD und die Blu-ray noch halten, während ihre vom materiellen Zwang befreite Online-Ablösung bereits ihren Eroberungszug angetreten hat.

Auf den ersten Blick scheint die Bibliothek mit den materiellen Film-Datenträgern nur einen gewissen Hang für das Analoge gemein zu haben, für das Greifbare im Regal, den nostalgischen Seufzer. Doch dieser Blick ist kurzsichtig: Gerade die Bibliothek ist auch ein Ort der Cinephilie, zwischen Videothek und algorithmischem Katalog, ein Ort, der zeitgemäßer ist als sein Ruf es vielleicht glauben macht. Es ist höchste Zeit für einen Besuch an diesem magischen und eigensinnigen Ort, für eine Entdeckungsreise durch seine Regalreihen und für ein Lob seiner Lebendigkeit.

 

Zwischen den Regalen

Im Herzen Berlins liegt mit der Amerika-Gedenkbibliothek eine einzigartige Bibliothek, nicht allein aufgrund ihrer Geschichte und Bedeutung, sondern vor allem aufgrund des riesigen Filmbestands von mehr als 65.000 Filmen, die auf DVD, Blu-ray und VHS verfügbar sind. Ist dies zwar der größte Filmbestand einer öffentlichen Bibliothek in Deutschland, so stellt er doch nur aufgrund seiner Größe eine Ausnahme dar: Denn selbst die kleinsten Stadtbüchereien bieten, würde man einmal den möglicherweise ungewohnten Schritt durch ihre Pforten wagen, ein beachtliches Filmangebot, ganz wie die umfangreichen Bibliotheken größerer Städte. Ich habe nun das Glück, keinen langen Weg zur Amerika-Gedenkbibliothek zurücklegen zu müssen, um von der Magie ihrer Filmregale erfasst zu werden, und mache mich auf, ihre Reihen zu durchstreifen.

Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin Kreuzberg; Copyright: Jörg Zägel CC BY-SA 3.0
Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin Kreuzberg; Copyright: Jörg Zägel CC BY-SA 3.0

Was also finde ich, wenn ich in einer Bibliothek Filme entdecke? Um nicht die Empfehlungen eines Algorithmus schlecht verpackt als eigene Entdeckung verkauft zu bekommen, sondern um tatsächlich über den mit robustem Teppich belegten Boden durch Gänge zu streifen, die Neues und Unerwartetes bereithalten, Bekanntes und Vergessenes. Willkürliche Zufallsfunde gibt es streng genommen natürlich nicht: Auch und gerade das Angebot einer Bibliothek braucht eine Ordnung, die hier alphabetisch nach den Namen der Regisseur*innen angelegt ist. Und doch: Mein Streifen kann sich der Entdeckung hingeben, mein Blick bleibt – selbst wenn ich etwas Bestimmtes suche – willkürlich hängen und findet dieses Cover, jenen Titel, angezogen von einer Farbe, einem Wort oder ohne jeden Grund. Abgesehen von den weißen Signaturstreifen bietet der Blick in die Regale wild verstreute Farbspiele der Rücken an Rücken aufgestellten Filmhüllen. Doch in den roten, schwarzen, grünlichen, bläulichen, matten und schreienden, den zwischen allen Verläufen und Schattierungen springenden Farben bilden sich gelegentlich, mal zufällig, mal systematisch kleine Inseln im Meer der Filmtropfen.

 

In den Regalen

Reihen, Serien, Sonderausgaben machen ihre eigene Gemeinschaft durch größere Farbfelder im Gewimmel all der anderen Farben deutlich. So findet sich etwa im Regal der Dokumentarfilme eine pastellig-ansprechende Gruppe von DVDs, auf denen sich das Werk des niederländischen Dokumentarfilmers Johan van der Keuken darbietet, ein wenig darüber stehen die zahlreichen Filme der großen Werner-Herzog-Edition. Nur eine Handvoll davon sind über Streaming-Anbieter gut zugänglich, möchte man sich aber mit diesem Regisseur ein wenig eingehender auseinandersetzen, so ist dies die Anlaufstelle. Von Johan van der Keuken gar nicht zu sprechen, gänzlich vergebens wäre es, sein reichhaltiges Werk bei einem der großen Streaming-Anbieter zu suchen.

Ich gehe weiter, umrunde das Regal, biege in einen anderen Gang, finde dort Serien wie Better Call Saul schräg über Boardwalk Empire, ein wenig tiefer große Mengen CSI, Downtown Abbey und Game of Thrones. Gegenüber: Eine weitere Gruppe von Filmen, die Garrel-Kollektion mit Filmen des Franzosen Philippe Garrel, von denen ich, wie ich Auge in Auge mit ihrer mahnenden Präsenz im Regal eingestehen muss, noch immer keinen einzigen gesehen habe. Schnell weiter, doch ich bin irritiert: Inmitten der Filme von Wim Wenders – von denen ich im Gegensatz zu Garrel ganz bewusst nur wenige gesehen habe – steht plötzlich zwischen zwei Exemplaren von Lisbon Story (1994) eine verirrte Bride of Frankenstein (1935) des Regisseurs James Whale, der eigentlich ein Stück weiter unten platziert sein sollte. Kein Algorithmus kann diese, zum Glück seltenen, aber doch seltsam erfreulichen, Zufälle generieren.

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Was also finde ich? Ich entdecke auf der anderen Seite des Regals noch eine ganze Reihe Filme der indischen Regisseurin Mira Nair – von der ich zuvor noch nie etwas gehört hatte – und ich bin froh, diesen Fund gemacht zu haben. Schräg darunter vertrauteres Gebiet: All die wunderbaren Filme von Mike Newell, die mich begleiten, seit ich denken kann. Die Bibliothek weicht mit ihrem Sortiment nicht einfach von dem der Streaming-Anbieter ab, es ist nicht bloß ein Gegenprogramm anspruchsvollerer oder von irgendwem als wertvoll bestimmter Filme – besonders das Serien-Regal macht dies sehr deutlich. Vielmehr steckt im Katalog der Bibliothek in erster Linie ein anderer Gedanke: Nicht der Verkauf von Abonnements, nicht das Hinhalten vor einer sich endlos verlängernden Watchlist, nicht die kurze Aufmerksamkeitsspanne des nächsten Hypes ist ihr Feld – sondern die unbelastete Verfügbarkeit.

Ich entdecke Filme, ganz einfach, weil sie vorhanden sind, weil sie mich aus dem Regal anblicken, mich an sie erinnern, oder sich mir völlig neu vorstellen. Auch im Streaming-Katalog kann ich natürlich Entdeckungen machen, Neues finden und mich über Altes freuen – aber dessen Breite steht doch immer im Dienst eines eindeutigen Zwecks, seine mangelnde Tiefe ist sorgsam verschleiert unter den Oberflächen perfektionierter Interfaces. Oh, wie schön, ein Film von Werner Herzog! – Doch nicht die Gesamtausgabe auch seiner dokumentarischen Werke. Ach, schön, Vier Hochzeiten und ein Todesfall! – Aber nicht im selben Blick die Entdeckung einer indischen Regisseurin, die zufällig alphabetisch auch im Sichtfeld steht.

 

Jenseits der Regale

Die Bibliothek verzaubert und obendrein kann sie preislich jeden Streaming-Anbieter abhängen, kostet der Ausweis in den meisten Städten doch etwa im Jahr so viel wie ein Streaming-Abonnement im Monat. Aber: Sie ist umständlich und unbequem – denn, oh weh, man muss das Haus verlassen, sich an Öffnungszeiten halten und den beschwerlichen Weg antreten, um zu ihr zu gelangen. Und diese Punkte sind nachvollziehbar – gerade wenn das Angebot einer kleineren Bibliothek nicht mit einer derartigen Auswahl aufwarten kann und in Zeiten des Online-Streamings große Verfügbarkeit ohne großen Aufwand möglich scheint. Doch auch in dieser Hinsicht ist noch nicht das Ende der Bibliotheken erreicht, auch hier bleiben sie lebendig – indem eigene Streaming-Angebote entwickelt werden.

So wurde der Anbieter Filmfriend im vergangenen Jahr ins Leben gerufen. Kostenloser Zugang für Berliner, Potsdamer und Hamburger Bibliotheksnutzer, weitere Städte sollen folgen. Das Programm, mit starkem Fokus auf deutsche Produktionen, befindet sich noch im Aufbau, weist aber schon jetzt eine beachtliche Vielfalt an Filmen und Serien auf, die anderweitig nicht zu bekommen wären und die im Raster der Streaming-Anbieter keinen Platz finden: Von wunderbaren Kinderfilmen wie Arend Agthes Flussfahrt mit Huhn (1983) oder dem Zeichentrick-Klassiker Das kleine Gespenst (1992) über Meisterwerke wie Die Werckmeisterschen Harmonien (2000) und herausragende Filme wie Kriegerin (2011) zu Serien wie Lerchenberg (2013-2015) und einem umfangreichen Dokumentarfilmangebot, das unter anderem den Oscar-Preisträger I Am Not Your Negro (2017) enthält.

Mag dies erst der Anfang sein und mag es sich dabei auch nicht um eine Konkurrenz zu den internationalen Streaming-Giganten handeln – so ist dies eben auch nicht das Ziel. Wenn über das Sterben der Videotheken gesprochen wird und über die Sorge um verlorene Verfügbarkeit, bleibt die Bibliothek oft ausgespart. Es ist bedauerlich, dass Orte wie das Berliner Videodrom, jüngst durch einen Spendenaufruf mit einiger Aufmerksamkeit bedacht, sich durch die Veränderung der Medienlandschaft in Gefahr befinden. Und es ist bedenklich, dass im Angebot der Streaming-Riesen enorme Lücken enorm gut kaschiert sind und viele besondere und seltene Filme in Vergessenheit geraten. Aber: Es gibt auch andere Orte der Cinephilie, es gibt Bibliotheken, deren Angebot und eigene Magie bestehen werden. Und es gibt Veränderung, neue Streaming-Anbieter mit anderen Programmen. Es ist nicht alles verloren, im Gegenteil: Filme sind in der Bibliothek lebendig und werden es noch eine ganze Zeit bleiben.

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