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Kolumnen

Als die Formate das Fernsehen verließen

Ein Beitrag von Lars Dolkemeyer

Wenn in den Katalogen der Streaming-Anbieter immer mehr klassische Fernseh-Formate auftauchen – ist dann der Tod des alten Mediums endgültig besiegelt? Oder beginnt hier gerade erst ein neues Kapitel der Konkurrenz?

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Chef's Table/Ultimate Beastmaster/Baby Ballroom
Chef's Table/Ultimate Beastmaster/Baby Ballroom

Das Fernsehen liegt im Sterben. Wie ein Beschwörungszauber wird diese Feststellung aufgesagt, sobald die Rede vom Eroberungszug der Streaming-Anbieter ist. Als würde das Fernsehen sich doch nicht so leicht seinem Tod fügen, als müsste es immer wieder daran erinnert werden. Nicht totzukriegen, der Dinosaurier der abendlichen Wohnzimmerunterhaltung. Doch die Streamer geben sich große Mühe, ihren alternden Rivalen in die Knie zu zwingen, und warten nun auch mit klassischen Fernseh-Formaten in ihren Katalogen auf. Ist damit die bestehende Konkurrenz bloß verschärft? Oder entsteht sie vielmehr erst in dieser Aneignung einer noch unberührten Nische?

Dass Netflix, Amazon Prime, Maxdome, Sky und all die anderen aus dem Boden sprießenden Anbieter für Flatrate- und On-Demand-Streaming in Konkurrenz zum sogenannten klassischen und linearen Fernsehen stehen, ist kaum zu bestreiten. Vorschnell scheint es jedoch, den Grund dieser Konkurrenz in den angebotenen Inhalten zu suchen: Während die Streaming-Anbieter vor allem mit internationalen Serien in Originalsprache und exklusiven Eigenproduktionen schnell Nutzer gewinnen konnten, waren weder die Platzierung großer Serien zu brauchbaren Sendezeiten geschweige denn das Angebot von Originalfassungen  eine besondere Stärke des Fernsehens. Ein Vergleich der Streaming-Kataloge mit dem durchschnittlichen Programm einer Fernseh-Woche offenbart kaum Überschneidungen. Die Konkurrenz von Fernsehen und Online-Streaming ist vielmehr eine Konkurrenz der Aufmerksamkeit als konkreter rivalisierender Inhalte, wie so oft in einer medialen Landschaft, deren größtes Kapital die kostbare Zeit ist, die meine Augen auf einem Angebot verweilen, was auch immer dieses Angebot sein mag.

Bei der generellen Verlagerung der Aufmerksamkeit durch die Digitalisierung, die erheblich stärker für den Verlust junger Fernsehzuschauer verantwortlich ist als das sowieso seit Jahren an die größere Zielgruppe der älteren Zuschauer gerichtete Programm, blieb dem Fernsehen doch immer noch eine ganz eigene Nische, in der es seine Vorherrschaft behaupten konnte: Reality und Show-Ereignisse. Wenn nun aber international erfolgreiche Formate wie RuPaul’s Drag Race, die eigenproduzierte Neuauflage von Queer Eye, oder die Originalproduktion Ultimate Beastmaster bei Netflix zu sehen sind und Amazon Prime ein neues Channel-Angebot startet, das auch Sport-Übertragungen umfasst, dann drängen die beiden größten Anbieter damit in das letzte Schutzgebiet des scheinbar sterbenden Mediums.

Netflix präsentiert dabei Doku-Serien wie MythBusters, dessen eigens produzierten Nachfolger White Rabbit Project, eine Vielzahl an Koch-Shows, ebenfalls mit Eigenproduktionen wie Chef’s Table, und mit Baby Ballroom oder Cheer Squad selbst Doku-Soaps, die Jugendliche bei Tanz- und Cheerleading-Wettbewerben begleiten – die Liste der Sendungen ließe sich lange fortsetzen. Das US-Angebot des Streaming-Dienstes ist bereits wesentlich umfangreicher, aber die Richtung, die Netflix einschlägt, ist auch hierzulande eindeutig. Während Amazon Prime eher durch die Form der neuen Channels an die Struktur des Fernsehens erinnert und in Eurosport einen mächtigen Sport-Partner hat, sowie mit The Grand Tour den Nachfolger der britischen Motorsport-Erfolgsserie Top Gear produziert, ist vor allem Netflix der Anbieter, der in einen klassisch dem Fernsehen eigenen Bereich drängt.

  • RuPaul's Drag Race läuft auf Netflix
    RuPaul's Drag Race läuft auf Netflix

    RuPaul’s Drag Race läuft auf Netflix

  • Ultimate Beastmaster läuft auf Netflix
    Ultimate Beastmaster läuft auf Netflix

    Ultimate Beastmaster läuft auf Netflix

  • MythBusters läuft auf Netflix
    MythBusters läuft auf Netflix

    MythBusters läuft auf Netflix

  • Chef's Table läuft auf Netflix
    Chef's Table läuft auf Netflix

    Chef’s Table läuft auf Netflix

  • Baby Ballroom läuft auf Netflix
    Baby Ballroom läuft auf Netflix

    Baby Ballroom läuft auf Netflix

  • The Grand Tour läuft auf Amazon Prime
    The Grand Tour läuft auf Amazon Prime

    The Grand Tour läuft auf Amazon Prime

Eine direkte inhaltliche Konkurrenz zwischen Fernsehen und Streaming-Anbietern ist also ein neues Phänomen: Die scheinbar tödliche Bedrohung des Fernsehens ist nicht mehr nur Teil einer generellen Abwanderung der Zielgruppen zu Online-Angeboten. Es entsteht eine direkte Konfrontation ähnlicher Formate, die in dieser Form bislang für das Fernsehen eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Es ist nicht mehr das generell attraktivere, weil im Fernsehen gar nicht verfügbare Programm der Streaming-Anbieter, das viele Nutzer anzieht – es ist ein zunehmend vergleichbares Programm.

Erst dieser Vergleich schafft Probleme, die das doch-noch-nicht-so-tote Fernsehen in Bedrängnis bringen könnten. Dabei fehlt den Streaming-Anbietern bisher noch eine zentrale Eigenschaft, die nach wie vor zu den herausragenden Fähigkeiten des Fernsehens gehört und einen ungebrochenen Zauber wirkt: Das Fernsehen kann Live-Gemeinschaften stiften. In seinen großen Ereignissen, deren serielle Programmierung Woche für Woche etwa Public-Viewing-Events für Germany’s Next Topmodel hervorbringt, oder alljährlich für zwei Wochen im Januar den Hashtag #IBES für Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! auf Twitter trenden lässt, gibt es auf Seiten der Streamer keine Konkurrenz. Noch immer ist es ein Alleinstellungsmerkmal des Fernsehens, mit seinem Live-Charakter – unabhängig davon, ob es sich um Live-Übertragungen im strengen Sinne handelt – Zuschauer zu Gemeinschaften zu machen.

Mit jederzeit verfügbaren Sendungen ohne feste Ausstrahlungstermine erfüllt sich daher die Konkurrenz zwischen Online-Streaming und Fernsehen selbst bei ähnlichen Formaten noch nicht gänzlich. Der ungebrochene Trend für Parcours-Reality etwa schlägt sich zwar auch in einem Netflix-Erfolg wie Ultimate Beastmaster nieder – doch der jüngste Fernseh-Ableger des Genres, The Big Bounce, konnte auf RTL ebenfalls respektable Quoten erzielen. (Aber ganz ehrlich: Takeshi’s Castle bleibt für immer die einzige Sendung, die wir in diesem Genre akzeptieren, oder?)

Takeshi's Castle - Showdown
Takeshi’s Castle — Showdown

Es stellt sich also eine entscheidende Frage für die weitere Entwicklung der Konkurrenz, die eigentlich gerade erst anfängt, ernst zu werden: Wenn die Formate sich zunehmend ähneln, wenn von Nachmittags-Kochsendungen über Vorabend-taugliche Doku-Soaps bis zur großen Abend-Unterhaltung mit Sport-Events die Streaming-Dienste sich zunehmend den Programmbereichen des Fernsehens annähern – was geschieht dann mit dem Live-Charakter gemeinschaftlicher Ereignisse? Wie lange hält sich die letzte Bastion des Fernsehens, die selbiges wiederum auch nur irgendwann dem Radio abnahm?

So sehr also die Grabreden auf ein nach wie vor durchaus lebendiges Medium allzu verfrüht erscheinen und oft völlig aus den Augen verlieren, welche Konkurrenz zwischen Streaming-Anbietern und Fernsehen tatsächlich in ihren jeweiligen Programmen besteht, so sehr nähert sich diese Konkurrenz eben doch einem kritischen Punkt, der nicht einfach als bloß letzter Schliff an einem zur Aufrichtung bereiten Grabstein verstanden werden sollte. Das Fernsehen lebt, wenn es auch nicht mehr in voller Blüte steht. Es sind aber gerade die neuen Möglichkeiten, unmittelbar über den Second Screen gemeinsam fernzusehen und nicht erst am nächsten Tag auf dem Schulhof oder bei der Arbeit über eine Sendung sprechen zu können, deren wirklich kreativen Einsatz das Fernsehen immer noch lernen muss.

Es muss nicht versuchen, seine Zuschauer in einem Markt zu halten, der nie existierte: Teure Serien, kleine Indie-Perlen, besondere Dokumentarfilme oder das kuratierte Programm eines Anbieters wie MUBI machen nicht das Feld aus, in dem das Fernsehen sich beweisen kann. Die Frage ist vielmehr, ob es gelingt, soziale Netzwerke und ihren neuen Formen von Gemeinschaft auf eigene Weise einzusetzen. Noch haben die Streaming-Anbieter kein vergleichbares Phänomen schaffen können und noch würde ein solches mit dem grundlegend auf dauerhafte Verfügbarkeit ausgerichteten Prinzip der Kataloge brechen. Doch auch das ist nur eine Frage der Zeit oder der richtigen Idee.

Die Liebe zu gutem Fernsehen – und dass so etwas existiert, insbesondere im Bereich der Reality-Formate, sollte mittlerweile bei aller snobistischen Blindheit auch die letzten empörten Kritiker erreicht haben – ist durch den Wandel des Fernsehens nicht in Gefahr. Die Streaming-Anbieter zeigen in ihrer Aneignung, dass sie dazu in der Lage sind, eigene und frische Ideen klassischer Fernseh-Formate zu entwickeln und sie kunstvoll zu inszenieren. In Gefahr ist nicht die endlose Versorgung mit großartiger Reality – sehr wohl aber das einzigartige Erlebnis der gemeinsamen Erfahrung: Wir schauen gemeinsam, fühlen gemeinsam mit den Protagonisten, ärgern uns gemeinsam und freuen uns gemeinsam. Um diese Magie muss das Fernsehen kämpfen, nicht um verlorene Posten im Feld eines fremden Programms – erst dann wird sich die Zukunft des lebendigen Mediums entscheiden.

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