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Oscars

Für eine Reform der Oscars

Ein Beitrag von Rajko Burchardt

Unzeitgemäße Kategorien und ein verengter Begriff von Kino – das Filmschaffen in Hollywood bilden die bald zum 90. Mal verliehenen Oscars schon lange nicht mehr ab. Rajko Burchardt denkt über die Schwachstellen eines traditionalistischen Preises und dessen mögliche Erneuerung nach.

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Nur wenige haben mitbekommen, dass Donald Sutherland vergangenes Jahr seinen ersten Oscar erhielt. Nominiert war der Schauspieler für Hollywoods vorgeblich wichtigsten Filmpreis bis heute nicht, obwohl er seit mehr als fünf Dekaden im US-Kinogeschäft tätig ist und Meisterwerke wie Johnny zieht in den Krieg oder Eine ganz normale Familie drehte. Der Honorary Award, den die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) dem lange übergangenen Sutherland 2017 überreichte, schloss somit zwar eine besonders große Lücke der Oscargeschichte. Doch ärgerlicherweise fand seine Verleihung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil Ehrenoscars seit 2009 in einer heimlich wirkenden Zeremonie ohne Millionenpublikum ausgehändigt werden.

Wenn auch die dazugehörige Gala im Rahmen der sogenannten Governors Awards eine glamouröse sein mag, hat es etwas Unwürdiges, den offenbar aus Angst vor Quotenschwund und Publikumsdesinteresse nicht länger in der eigentlichen Oscarnacht vergebenen Sonderpreis derart auszulagern. In den letzten Jahren ist viel geredet worden über unzeitgemäße Oscarpraktiken, die mit (symbol-)politischen Zeichensetzungen (#OscarsSoWhite, #TimesUp) in den öffentlichen Fokus gerieten. Nötig aber wäre auch eine – weitaus schwieriger in Hashtags zu fassende – Kritik, die nicht erst bei der Nominierung und Vergabe der Academy Awards, sondern bereits ihrem Regelwerk ansetzt. Der künstlerisch und kommerziell in Hollywood verortete Oscar bildet zunehmend weniger das Kino ab, das dort tagein, tagaus produziert wird.

So ist bekanntlich die Auswahl der für wesentliche Kategorien überhaupt in Erwägung gezogenen Filme von vornherein erheblich eingeschränkt. Den Academy-Regeln zufolge müssen sie lediglich das Kriterium einer US-Kinoauswertung im zurückliegenden Kalenderjahr erfüllen, wofür bereits eine siebentätige Aufführung in Kalifornien genügt. Die mittlerweile gängige und von den Ursprüngen der Preisverleihung abweichende Praxis sieht allerdings anders aus. Faktisch werden in der Zusammenstellung der Nominierungen beinahe ausschließlich Titel berücksichtigt, die im November und Dezember des Vorjahres in die Kinos kamen (Oscar Season). Abgesehen von wenigen Ausnahmen, in diesem Jahr beispielsweise Dunkirk und Baby Driver, stehen die Filme der restlichen Startmonate augenscheinlich nicht unter Oscarverdacht.

Weil Studios dieser Verengung des Zeitraums bereitwillig zuspielen, veröffentlichen sie ihre Prestigeware (Oscar-bait) grundsätzlich nur noch am Jahresende – und produzieren Filme eventuell sogar allein zu diesem Zweck. Je nach Blickwinkel haben sie oder eben die Academy damit schon eine Vorauswahl getroffen. Den Abstimmungsberechtigten scheint wenig daran gelegen, den Radius zu vergrößern oder sich auf Entdeckungstour zu begeben, wie es freilich Aufgabe einer Versammlung wäre, die das Beste vom Besten auszeichnen möchte. Wettbewerbsvorteile etwa durch millionenschwere Oscarkampagnen und Geschenke, mit denen Produzenten ihre Filme anpreisen (for your consideration), zäunen die ohnehin eng gefasste Prozedur zusätzlich ein.

Daraus ergeben sich nicht nur veröffentlichungsstrategische Limitierungen. Zum einen bleiben Independentfilme, also tatsächlich unabhängiges und nicht im Auftrag von Major-Subdivisionen wie Fox Searchlight oder Sony Pictures Classics taktiertes Kino, auf der Strecke – gewissermaßen baden die Oscars sehr bewusst in der eigenen Erfolgsuppe. Zum anderen haben Hits oder gar Blockbuster deshalb nicht automatisch bessere Chancen: Die überschaubaren geschmacklichen Vorlieben der Academy beschränken sich traditionell auf Musicals, biographische historische Dramen und romantische Epen oder Komödien, alles andere wird meist automatisch aussortiert. Wenn überhaupt, spielen Action- oder Horrorproduktionen lediglich in sogenannten technischen Kategorien eine Rolle. Genrefilme wie der 2018 vierfach nominierte Get Out müssen schon eine erkennbare bzw. überdeutliche „Relevanz“ haben, um gewürdigt zu werden. Und auch das geschieht nur alle Jubeljahre.


(Trailer zu Get Out)

Bereits die Trennung von Film und Animationsfilm legt ein recht begrenztes Kunstverständnis der Academy nahe. Logisch ist es nicht, dass die unter der 2002 eingeführten Sektion Best Animated Feature subsumierten Filme nur in Ausnahmefällen auch für die zahlenmäßig mittlerweile erweiterte „Hauptkategorie“ Best Picture infrage kommen (bislang war das genau drei Mal der Fall). Das Feld der extra nominierten Animationstitel ist seit jeher ein auffallend dünnes, es wird dominiert von Disney/Pixar und DreamWorks, die sich den Oscar im jährlichen Wechsel aufteilen. Überhaupt suggeriert die Sonderkategorie, Animation habe nichts mit dem „allgemein besten Film“ zu tun. Vielleicht wird bei der Vergabe des prominent platzierten Oscars allein deshalb zwischen Animations- und Real-, Kurz- und Lang- oder Dokumentar- und Spielfilm unterschieden, weil die eigentliche Wertschätzung der Academy vorwiegend fiktionalen Geschichten mit schönen Hollywoodgesichtern gilt.

Angesichts ihrer betont ausdifferenzierten Präsentation könnten die Oscars genauso gut eine Kategorie „bester Independentfilm“ einführen. Das wäre zwar ähnlich unsinnig, würde aber zumindest für etwas mehr Vielfalt sorgen. Tatsächlich hat sich der Preis im Laufe seiner Geschichte stark verdichtet: Die früher in Schwarzweiß- und Farbgestaltung aufgeteilten Kategorien beste Kamera, beste Kostüme und bestes Produktionsdesign wurden ebenso wie der zu Beginn an Dramen und Komödien separat verliehene Oscar für die beste Regie zusammengefasst, Auszeichnungen für den besten Regieassistenten und besten Kunstfilm (toll!) hingegen ersatzlos gestrichen. Mit neuen Kategorien tut sich die Academy schwer, in den vergangenen 50 Jahren hat es lediglich zwei Erweiterungen gegeben – die Einführung von Oscars für das beste Makeup 1981 und eben den besten Animationsfilm 2002.

Das sich jährlich zu einer Überprüfung der alten und möglichen Gestaltung von neuen Kategorien einfindende Board of Governors verbringt seine Zeit demnach mit Däumchendrehen. Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, warum es trotz intensiver Bestrebungen des Stuntmans Jack Gill noch immer keinen Oscar für die beste Stuntarbeit gibt. Seit 1991 kämpft Gill für eine Einführung dieser Kategorie, das Board aber lehnt sie kontinuierlich ab, obwohl die Arbeit von Stuntleuten und –Koordinatoren integraler Bestandteil der gesamten US-amerikanischen Filmproduktion ist. Von Actionfilmen bis zu Komödien erledigen sie über Genregrenzen hinaus, was Schauspielerinnen und Schauspieler nicht erledigen können oder aus versicherungstechnischen Gründen nicht erledigen dürfen.

Diskutiert und ebenso verworfen wurde der Vorschlag, das beste Casting zu prämieren (in der Tat eine überfällige Kategorie, da die Besetzungsarbeit erst die Voraussetzungen für zu ehrende Schauspieler schafft). Und auch über eine Auszeichnung des besten Ensembles ließe sich wenigstens einmal diskutieren, um darstellerische Leistungen von Filmen insgesamt zu würdigen, statt nur Neben- und Hauptrollen hervorzuheben (die US-Schauspielergewerkschaft vergibt ihren Screen Actors Guild Award tatsächlich in einer solchen Kategorie). Viele weitere zusätzliche Preise wären denkbar, beispielsweise für die gemeinhin unterschätzte Arbeit des 2nd-Unit-Directors, ohne den viele Regisseure aufgeschmissen wären (möglicherweise ist das ein Grund, warum es die Kategorie bislang nicht gibt).

Am Eklatantesten sind die Versäumnisse der Academy jedoch, wenn es darum geht, auf die Digitalisierung des Kinos zu reagieren. Es braucht keinen Motion-Capture-Oscar, für den bislang nur Andy Serkis ein ernsthafter Kandidat wäre (immerhin durfte er die Nominierungen 2018 verkünden), um die Veränderungen durch „digitales“ Schauspiel, neue Bedingungen der filmischen Gestaltung oder schlicht andere Arbeitsmethoden zu berücksichtigen (am Computer gesteuerte Kameras, fließende Übergänge von Real- und Animationsmaterial). Wie wird sich der Oscar zur Virtual Reality verhalten? Bleibt es bei Sonderehrungen, wie sie im letzten Jahr – natürlich abseits der Hauptverleihung – beispielsweise Alejandro González Iñárritus VR-Installation erhielt? Für den Nabelschaupreis einer Filmindustrie, die ihre Innovationen stolz vor sich her und in die Welt hinaus trägt, wirkt der Academy Award seit Jahrzehnten erstaunlich wandlungsresistent.

Natürlich sollte man die Oscars nicht allzu ernst nehmen, obschon eine ausgestellt ironische Distanz zu ihnen noch viel langweiliger ist – sich leidenschaftlich auf sie einzulassen, bereitet ja vor allem sehr viel Vergnügen. Vielleicht wären die Oscars nicht mehr die Oscars, würden sie eine derartige Öffnung zu dem durch sie (vermeintlich) repräsentierten Hollywoodkino so vollziehen, dass man sie für bedeutend mehr als eine provinzielle Spaßveranstaltung halten könnte. Andererseits: Gewisse Erwartungen gegenüber einem Filmpreis, der unzweifelhaft von mindestens wirtschaftlicher und gelegentlich auch gestalterischer Bedeutung ist, darf man wahrscheinlich schon stellen. Wozu sonst der ganze Aufwand. Und die alljährliche Freude.

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