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Kolumnen

Poesie auf der Leinwand - Ein Bericht vom FILMZ-Symposium

Ein Beitrag von Urs Spörri

Gibt es eine neue Bewegung im deutschen Kino? Diese Frage stellte das Symposium des Mainzer FILMZ – Festivals des deutschen Kinos, das sich gemeinsam mit dem Deutschen Filmmuseum Frankfurt der Neuen Deutschen Sinnlichkeit widmete.

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Bild aus "Schau mich nicht so an"
Bild aus "Schau mich nicht so an"

Deren zentrale Vertreter diskutierten am 24. und 25. November 2016 darüber, was es mit dieser Strömung ästhetisch wie inhaltlich auf sich hat – und welchen Einfluss die Filme auf die deutsche Kinolandschaft haben könnten. Die klare Botschaft lautete: Es ist Zeit für mehr Poesie auf der Leinwand!

Weitgehend fernab der öffentlichen Wahrnehmung ist es zwei deutschen Filmen gelungen, 2016 im Ausland für Furore zu sorgen: Schau mich nicht so an von Uisenma Borchu und Jonathan von Piotr J. Lewandowski. Lewandowski feierte seine Premiere auf der diesjährigen Berlinale und gewann den Publikumspreis beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen, ehe Jonathan in den USA bei den Filmfestivals in San Francisco, Pittsburgh, Atlanta und Salt Lake City Preise erhielt und kürzlich gar in Australien für die beste Kamera in einem Spielfilm 2016 von der Australian Cinematographers Society ausgezeichnet wurde. Während Borchu – Absolventin der HFF München und gebürtig aus der Mongolei – vom FIPRESCI-Preis 2015 beim Filmfest München aus einen internationalen Siegeszug startete, der seinen Höhepunkt im Grand Prize der Jury beim Filmfestival in Taipei fand und zu außergewöhnlichen Ehrungen führte: Uisenma Borchu wurde zur Mongolin des Jahres 2016 gewählt und, noch viel wichtiger, von goldenglobes.com in der Überschrift eines Artikels als „The Face of the New German Cinema“ (!) bezeichnet.

War der deutsche Film bislang zu unsexy?

Auffällig ist, dass Sexualität und Erotik in den Filmen der Neuen Deutschen Sinnlichkeit unverkrampfter und dadurch ehrlicher erzählt wird, als es üblicherweise der Fall im deutschen Film ist. Häufig geht es ja nur handlungsorientiert darum, dass zwei Figuren miteinander geschlafen haben und sich daraus neue Konflikte oder neue Situationen entwickeln. Aber das Sinnliche fehlte bislang weitgehend im hiesigen Kino. Vielmehr sollen nun die Charaktere auch spiegelbildlich in der ästhetischen Darstellung ihren (Entwicklungs-)Höhepunkt erreichen können. Schließlich läuft die Anbahnung der Beziehung stets auch auf den sexuellen Akt zu. Und der Sex sei Kernbestandteil beim Erzählen einer Beziehung, so der Tenor des Symposiums.

„Authentisch“, „echt“, „naturalistisch“ – das sind häufig gebrauchte Schlagworte, die im Zusammenhang mit den erotischen Szenen der Neuen Deutschen Sinnlichkeit fallen.

Doch warum ist das so? Vielleicht liegt es an der Gebrochenheit der Situationen, die so realistisch wirken. Auf eine ekstatisch aufgeladene Flirtszene in der Bar zwischen Josef Bierbichler und Uisenma Borchu in Schau mich nicht so an folgt beispielsweise keine sinnliche Sexszene im ohnehin kargen Hotelzimmer. Dort ist die Leidenschaft verflogen, Bierbichler (dessen Spiel an seine frühen Achternbusch-Werke erinnert) monologisiert lieber Brecht und beschränkt sich aufs Anschauen der schönen Frau. Es scheint das Gespür für Situationen zu sein, wie sich zwischenmenschliche Dinge entwickeln, was die Filme der Neuen Deutschen Sinnlichkeit eint. Hinzu kommt der Mut, auf emotionale wie sensible Weise mehr Persönliches preiszugeben und Gefühlskino zuzulassen – freilich jedoch ohne zum Kitschfilm abzudriften.

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Trailer zu Schau mich nicht so an

 

Schön, ohne kitschig zu sein?

Die Abgrenzung zum Kitsch ist wichtig für die Neue Deutsche Sinnlichkeit. Es handelt sich dabei explizit nicht um die aus dem ZDF bekannte 20:15-Uhr-Rosamunde Pilcher-Sinnlichkeit. Schönheit ist hier anders definiert als wir es aus Modezeitschriften suggeriert bekommen wollen. Nähe und Intensität, die zu den Figuren aufgebaut werden sollen, sind der erste Schritt der Filmemacher. Dabei ist auffällig, dass es vielfach schöne Menschen sind, die als Charaktere ausgewählt werden – doch ist es offenbar die filmisch geschaffene Atmosphäre, die aus jeder Darstellung Schönheit offenbaren kann. Ob alt, ob jung und gleichgültig welcher sexuellen Orientierung: Die Figuren der Neuen Deutschen Sinnlichkeit lassen zu, dass man sich bereits beim Anschauen in sie verlieben kann. Das Verlieben des Zuschauers in mindestens eine Figur ist fast die Regel und ermöglicht eine zusätzliche Wirkungsschiene, die sich in Form eines sanften Voyeurismus entfalten kann.

Wie funktioniert dies? Die Bilder entstehen aus der Handlung heraus. Schauspieler bekommen ausreichend Raum und Freiheiten und die Kamera nähert sich vorsichtig. Es geht um Blicke, Gesten, Berührungen. Intimste Annäherungen. So entstehen Schönheit und Poesie. Man schwelgt in den Bildern. Die Landschaften entsprechen dem inneren Seelenbild der Figuren, die Natur ist häufig der Ort dieser Filme. Farben und Ästhetik sind stets gewollt – aber nie Mittel zum Zweck. Und so kommt eine sehnsuchtsvoll vertraut wirkende Nähe und Intensität zum Vorschein, die aus Sicht des Publikums am liebsten nie enden sollte. So ist es auch kaum verwunderlich, dass die Filme meist von offenen Enden geprägt sind. Von Enden mit Fragezeichen. Ist es eine Vision, ein Tagtraum? In jedem Fall ist es ein gekonntes Spielen mit Realität und Fantasie.

Poesie entsteht schon im Drehbuch!

Poesie ist das Fundament der Filme der Neuen Deutschen Sinnlichkeit. Den Filmemachern gelingt die Balance zwischen Handlung und Poesie, zwischen Prosa und Dialogen. Bereits im Drehbuch ist dies angelegt: Nicht selten findet ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte den Weg ins Drehbuch (was offensichtlich weder üblich noch von deutschen Fördergremien gewünscht ist). Der Prozess des Schreibens ist ein Gedankenfluss, die Gefühle und Emotionen des Autors spiegeln sich dann auch anschaulich im Drehbuch wider. Stimmung und Atmosphäre werden beschrieben – wodurch sich gerade Schauspieler immer wieder in ihrer Arbeit eingeschränkt fühlen. Letztlich ist es aber der Weg zum kompletten Fallenlassen in ihrer Figur. Die Annäherung an den Wesenskern der Figur gelingt. Und das ist besonders wichtig bei den Filmen der Neuen Deutschen Sinnlichkeit, bei denen die Handlung im Wortsinne auch einmal stillstehen kann. In der man in der Situation, der Weite der schönen Natur (Wälder und Wiesen, Flüsse und Seen), mit den herrlich komponierten Farben schwelgen kann. Dafür ist ein solcher Background der Figuren wichtig. Doch in Zeiten, in denen Filmförderung auf Basis von Drehbüchern bewilligt wird, ist hierfür ein Umdenken bei den Entscheidern nötig – Poesie im Drehbuch ist kein Stillstand. Sie kann eine Waffe sein. Und vor allem: Poesie ist kein Schimpfwort. Im Ausland werden die ersten Filme der Neuen Deutschen Sinnlichkeit bereits gefeiert.

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Trailer zu Jonathan

 

Ein weiteres Geheimnis lüftete Piotr J. Lewandowski: Die Ruhe am Set während der Dreharbeiten, die selbst für gestandene Schauspieler wie André Hennicke und Barbara Auer ungewohnt war. Kein lautes „Und bitte!“, „Alles auf Anfang!“ oder wie das „Set-Getue“ (O-Ton Uisenma Borchu) sonst üblicherweise abläuft. Es wird nicht geschrien. Schauspieler können sich laut Lewandowski nur dann wirklich entblößen, wenn sie größtmögliche Freiheit, Ruhe und Konzentration erhalten. Nach zwei Tagen hatten sich alle daran gewöhnt und sagten: „Wow, das ist etwas wirklich anderes!“. Die Intensität gerade von schwierigen Szenen verstärke sich dadurch deutlich.

Innerlich zerrissene Figuren als Spiegelbild unserer Gesellschaft?

Neben der Schönheit der Protagonisten ist ein weiteres Charakteristikum, dass es sich bei den zentralen Figuren um Getriebene handelt. Sie sind innerlich zerrissen, Suchende nach ihrem Wesenskern und ihrer Identität. Und so ist auch der Vorwurf des Eskapismus ein falscher, den man der Neuen Deutschen Sinnlichkeit machen könnte. Stattdessen stellt sich diese Strömung durchaus gegenwärtigen Problemen, um sie unter der Oberfläche zu thematisieren. „Wer ist Wir? Deutscher Film von Migration bis queer“ lautete nicht umsonst der Titel des Symposiums beim Mainzer FILMZ Festival. Bei aller Schönheit ist klar: Es handelt sich nicht um deutsches Herzkino. Es ist keine abgeschlossene Welt. Fast immer werden Dreiecksgeschichten erzählt. Das Glück der Figuren ist ein kurzfristiges.

Ein Geheimnis, eine Lüge und manchmal gar eine Lebenslüge (beispielsweise wenn der sterbenskranke Vater in Jonathan sein Schwulsein nicht länger leugnen will) bringen den Stein ins Rollen. Alle Figuren müssen darauf reagieren, sie werden zu Getriebenen ihrer inneren Zerrissenheit. So verwundert es auch nicht, dass Todes-Metaphern häufig als Fluchtpunkt aufgezeigt werden und der Tod quasi als Chance wahrgenommen wird. Doch dies ist nur oberflächlich der Fall. Eigentlich sind es geisterhafte Figuren, die zwischen den Welten schweben. Die zwischen Äußerem und Innerem agieren und bei der desorientierten Suche nach Identität als Mittler helfen. Es sind flüchtige Wesen, die gerne alles wollen – und selten das bekommen, was ihr großes Ziel ist.

"Jonathan"
Bild aus Jonathan von Piotr J. Lewandowski; Copyright: Farbfilm Verleih GmbH

 

So bleibt zu hoffen, dass die Neue Deutsche Sinnlichkeit keine flüchtige Erscheinung bleibt. Denn dem deutschen Kino kann Poesie und Sinnlichkeit nur guttun.

 

Podiumsdiskussionen in voller Länge

Gemeinsam mit Regisseurin Lena Knauss waren Uisenma Borchu und Piotr J. Lewandowski als Vertreter dieser Neuen Deutschen Sinnlichkeit zu Gast in Frankfurt, um die Kernelemente der Strömung herauszuarbeiten. Die Mitschnitte der ersten beiden von Urs Spörri moderierten Diskussionen in voller Länge finden Sie hier:

1. „Ästhetik, Farben, Poesie: Was macht die Neue Deutsche Sinnlichkeit aus?

2. „Wie gelingt mehr Poesie im deutschen Kino? Ein Diskurs über Förder- und Produktionsbedingungen

Eine aktualisierte Auflistung von Filmen der Neuen Deutschen Sinnlichkeit finden Sie außerdem hier.

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