zurück zur Übersicht
Bücher

Hitchcock, Kaufman und Sehnsucht nach Kino – Die Filmbuchkolumne März 2021

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Eine Comic-Biographie zu Alfred Hitchcock, der erste Roman von Charlie Kaufman, ein Fotoband mit verlassenen Kinos und Schauspieler:innen im Theater – die Bücher dieser Kolumne erlauben eine Beschäftigung mit Film und Kino in Zeiten geschlossener Säle.

Meinungen
Alfred Hitchcock 1 / Ameisig / Memoiren und Falschinformationen
Alfred Hitchcock 1 / Ameisig / Memoiren und Falschinformationen

Ein einziges Bild ist auf der ersten Seite der Comic-Biographie Hitchcock zu sehen: Es zeigt ein Kino in Frankreich an einem regnerischen Tag, das berühmte Plakat von Psycho, darüber ein Plakat mit dem mittlerweile zur Ikone gewordenen Alfred Hitchcock mit der Sprechblase: „Verraten Sie nicht das Ende des Films, wir haben nur dieses“.

Die Menschen stehen Schlange vor diesem Kino – und nicht nur in Paris. Die zweite Seite zeigt eine weitere Silhouette des Regisseurs, dazu dreimal zwei Bilder: ein Blick in Kinosäle in Berlin, Tokio und Dakar, dazu Bilder der legendären Duschszene in Psycho

© Splitter Verlag
© Splitter Verlag

Psycho ist fraglos Hitchcocks berühmtester Film – der erste Band der in zwei Teilen erscheinenden Comic-Biographe von Noël Simsolo (Szenario) und Dominique Hé (Zeichnungen) steigt aber an diesem Punkt nur ein. Danach geht es zunächst sechs Jahre zurück in das Jahr 1954, zu den Dreharbeiten von Über den Dächern von Nizza mit Cary Grant und Grace Kelly. Hitchcock sitzt mit ihnen auf der Terrasse des Carlton und Grace Kelly fragt ihn nach einer berühmten Anekdote aus seinem Leben: Ob es stimme, dass sein Vater ihn mit sechs Jahren in eine Polizeiwache geschickt habe, um ihn zu bestrafen. Daraufhin fängt Hitchcock an, von seiner Kindheit, Jugend und seinen ersten Filmen in London zu erzählen. 

Um diese Zeit wird es in dem ersten Teil der Comic-Biographie geben, ein zweiter Teil ist für Herbst angekündigt. Diese Zweiteilung gibt ausreichend Raum, sich zum einen dem stets auf sein öffentliches Bild bedachten Regisseur zu nähern und zum anderen über die weniger bekannten englischen Filme etwas zu erfahren. Der biografische Abriss greift die bekannten Motive auf: Hitchcock war ein ängstliches Kind, das Trost im Essen fand, eine bedenklich enge Bindung an seine depressive Mutter sowie den Katholizismus hatte und schon immer gerne Leute beobachtet hat. Hier schrammt die Biographie gerade so an einer zu starken Psychologisierung von Hitchcock vorbei, nutzt aber diese Aspekte, um seine filmischen Vorlieben zu erklären. 

© Splitter Verlag
© Splitter Verlag

Weitaus spannender sind seine Kämpfe mit dem damaligen Kinosystem sowie die Einblicke in seine Arbeit als Regisseur. Es werden die Grenzen deutlich, in denen Hitchcock in England arbeiten musste, zugleich wird sehr gut vermittelt, was das Bemerkenswerte an den Filmen dieser Jahre war. Dazu gehören insbesondere auch technische Einfälle wie etwa die legendäre Einstellung in Young and Innocent, in der von einem vollen Ballsaal über die Tänzer auf die Band, den Schlagzeuger (wie im Film mit Blackface) und schließlich dessen Auge „gezoomt“ wird. Hier entfaltet sich auch die gesamte Stärke von Hés Bildern, die stark an die Ästhetik der Filme angelehnt sind, aber auch Hitchcocks Mimik sehr gut einfangen.

Dieser erste Band vermittelt kein neues Bild von Hitchcock, aber er spart auch dessen Ambivalenzen nicht aus. Hitchcock war ein Mann, der wusste, wie er sein Umfeld und die Öffentlichkeit manipulieren konnte. Er hat an Sets gemeine und alberne Scherze gespielt, war gefräßig und gegenüber Frauen misogyn, hatte aber unter anderem mit Alma Reville und Joan Harrison zwei Frauen in seinem Leben, deren Können er schätzte und zu nutzen wusste. Gerade Joan Harrison, deren Schaffen erst voriges Jahr mit Christina Lanes Phantom Lady umfassend beleuchtet wurde, ist in diesem Buch fast so präsent, wie sie es in diesen Jahren für Hitchcock war. Inszeniert ist sie als kühle Blondine, von Hitchcock eher wegen ihres Aussehens engagiert. Aber im Gegensatz zu anderen Biographien lässt sich in diesen Bildern zumindest erkennen, dass sie eben mehr war als seine Sekretärin und eine weitere Obsession. Es wird spannend zu sehen sein, wie sie in dem zweiten Band in Erscheinung tritt.

 

Noël Simsolo, Dominique Hé: Alfred Hitchcock. 1. Der Mann aus London. Splitter Verlag 2020. 160 Seiten. 24 Euro. 

  • Charlie Kaufman: Ameisig
    Charlie Kaufman: Ameisig

    Schreibende Regisseure

    Charlie Kaufmans filmische Arbeit hat schon immer ein enges Verhältnis zur Literatur – weiterhin ist Adaption meiner Meinung einer der besten Filme über eine Literaturverfilmung. Nun hat Kaufman mit Ameisig seinen ersten Roman geschrieben. Er erzählt von einem Filmkritiker, der zufällig den besten Film aller Zeiten entdeckt, dann verliert und vergisst. Nun will er sich unbedingt an diesen drei Monate dauernden Film erinnern, aber die Grenzen zwischen Traum, Erinnerungen und Realität verschwimmen zusehends. Sehr bissig, grotesk und in den besten Passagen beißend komisch, ist dieser Roman mit über 800 Seiten etwas zu lang.

    Charlie Kaufman: Ameisig. Übersetzt von Stephan Kleiner Hanser 2021. 864 Seiten. 34 Euro

  • Jim Carrey & Dana Vachon: Memoiren und Falschinformationen
    Jim Carrey & Dana Vachon: Memoiren und Falschinformationen

    Schreibende Schauspieler

    Jim Carrey hat zusammen mit der Schriftstellerin Dana Vachon einen Meta-Biografie-Roman geschrieben. Erzählt wird von dem erfolgreichen Komiker Jim Carrey, der sich in einer Art Krise befindet und von dem Gedanken besessen ist, dass er und die Welt zugrunde gehen. Damit beginnt eine satirische, bitterböse Auseinandersetzung mit Hollywood inklusive Name-Dropping und vor allem den vielen Missverständnissen, die mit Ruhm verbunden sind. 

    „None of this is real and all of is true“ ist das Zitat, mit dem das Buch beworben wird – und es tatsächlich sehr gut beschreibt. 

    Jim Carrey und Dana Vachon: Memoiren und Falschinformationen. Droemer Knaur 2020. 272 Seiten. 20 Euro.

  • Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945
    Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945

    Kinoleidenschaft

    Seit Ende der 1920er Jahre hat Victor Klemperer ein Kinotagebuch geführt – einer der wichtigsten Zeitzeugen der Nazizeit, einer der großen Philologen des 20. Jahrhunderts war ein begeisterter Kinogänger. Das nun von Nele Holdack und Christian Löser herausgegebene Kinotagebuch setzt im Jahr 1929 ein. Begeistert ist er von Langs Frau im Mond, schimpft über den Tonfilm und zeigt sich dann aber drei Jahre später angetan von Marlene Dietrich in Der blaue Engel. Ab den 1930er Jahren ändern sich der Ton, Klemperer beobachtet und analysiert die Wirkung des Zeitgeschehens auf das Kino. Ein beeindruckendes Zeitdokument.

    Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945. Hrsg. von Nele Holdack und Christian Löser. Aufbau Verlag 2020. 363 Seiten. 24 Euro.

  • Marcus Stiglegger: Handbuch Filmgenre. Geschichte - Ästhetik - Theorie.
    Marcus Stiglegger: Handbuch Filmgenre. Geschichte - Ästhetik - Theorie.

    Grundlagen

    Genre meint im filmischen Bereich eine Gruppe von Filmen, die eine Gemeinsamkeit aufweisen. Das von Marcus Stiglegger herausgegebene Handbuch bietet nun auf 700 Seiten einen umfassenden Überblick über den Stand der Filmgenreforschung. Dazu gehören die Geschichte des Begriffs sowie seine Definition, verschiedene Theorien und Ansätze aber auch einzelne Filmgenre wie Melodram, Kriminalfilm und Gangsterfilm. Der Blick ist nicht auf Filme begrenzt, z. B. beim Kriminalfilm, der hier Polizei- bzw. Detektivfilm meint (Gangsterfilm und Thriller sind eigene Genres), sind auch Serien umfasst; sogar der Tatort bekommt einen eigenen Abschnitt. Aber alleine schon wegen des umfassenden Literaturverzeichnisses am Ende der jeweiligen Filmgenres bietet das Buch einen guten Einstieg in die jeweiligen Themen. 

    Marcus Stiglegger: Handbuch Filmgenre. Geschichte – Ästhetik – Theorie. Springer VS 2020. 700 Seiten. 129,99 Euro.

  • Beat Presser und Danit: Film Stills. Berliner Kino im Lockdown.
    Beat Presser und Danit: Film Stills. Berliner Kino im Lockdown.

    Kino-Sehnsucht

    Was passiert mit Kinos, wenn sie geschlossen sind? Wie sind diese leeren Kinos? Der Fotograf Beat Presser hatte gerade seine Ausstellung zum Neuen Deutschen Film präsentiert, als der Lockdown beschlossen wurde. Seither ist er durch die leeren Kinos in Berlin gezogen und hat sie fotografiert. Es sind Bilder von Orten, die fast fern erscheinen – und doch auf all das verweisen, was man im Kino sucht und findet. 

    Beat Presser & Danit: Film Stills. Berliner Kino im Lockdown. Zweitausendeins 2021. 176 Seiten. 15 Euro.

  • Simon Annand: Time to Act
    Simon Annand: Time to Act

    Theatermagie

    Der britische Fotograf Simon Annand blickt in seinem Bildband hinter die Kulissen Londoner Theater und fotografiert Schauspieler:innen in ungewohnten Momenten: halbe Stunde vor dem Auftritt, 15 Minuten vor dem Auftritt, 5 Minuten vor dem Auftritt und schließlich in dem Moment, in dem sich der Vorhang hebt. Durch diese Bilder von u.a. Jude Law, Judi Dench, Cate Blanchett, Olivia Coleman, Patrick Stewart, Elisabeth Moss, David Oyelowo und Ian McKellen wird noch einmal klar, was die Arbeit am Theater bedeutet. Ein Euro von jedem verkauften Buch kommt der #coronakuenstlerhilfe zugute. 

    Simon Annand: Time to Act. Salz und Silber 2020. 256 Seiten. 40 Euro.

  • Dennis Basaldella: Ein Leben für den Film
    Dennis Basaldella: Ein Leben für den Film

    Friends of Kino-Zeit

    In seiner Dissertation porträtiert Dennis Basaldella, der auch für Kino-Zeit schreibt, Horst Klein, einen der aktivsten freien Filmhersteller der DDR. Bereits 1939 hat er in Luckenwalde eine Amateurfilmgruppe gegründet, hat für die Wehrmacht als Filmberichterstatter und als Kameraassistent für die DEFA gearbeitet und Filme über den Osten gedreht. Vor allem aber war er bis Ende 1987 für das DDR-Fernsehen tätig. Zu den über 900 Filmen gibt es zahlreiche Dokumente, sein Nachlass ist im Filmmuseum Potsdam – und dieses interessante Buch widmet sich auf dem „freien Filmhersteller“ auf fundierte Weise.

    Dennis Basaldella: Ein Leben für den Film. Der freie Filmhersteller Horst Klein und das Film- und Fernsehschaffen in der DDR. Büchner Verlag 2020. 348 Seiten. 35 Euro. 

Meinungen