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Jahresrückblick

„Tanzt, tanzt, sonst seid ihr verloren!“

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Zwei Filme haben in diesem Jahr das Herz von Joachim Kurz erobert — und in beiden wird ziemlich viel getanzt. Was Suspiria und Climax mit einem notorischen Nichttänzer gemacht haben… 

Meinungen
Filmstill zu Suspiria (2018)
Suspiria (2018) von Luca Guadagnino

Zugegeben: Das Jahr 2018 war nicht gerade eines, das die Welt zum Tanzen gebracht hat – oder allenfalls eines, das mehr einem Tanz auf dem Vulkan (oder zumindest am Rande eines rauchenden Kraters) gleicht: Die verrückten Eskapaden der Weltgeschichte und das erratische Handeln gleich mehrerer Despoten und populistischer Politiker, die mit den Händen zu greifende Unruhe, Nervosität und Aggressivität vieler Menschen, die plötzlich wieder neu aufbrechenden Grabenkämpfe um Errungenschaften, derer wir uns längst sicher wähnten – all das konnte schon zu der Haltung verführen, dass die Welt da draußen das Kino an Drastik und Verrücktheit derzeit um Längen schlägt.

Dennoch gab es in diesem Jahr Filme, die versucht haben, es mit der Verrücktheit der Welt aufzunehmen und diesem ganz realen Irrsinn ein kinematographisches Äquivalent entgegenzusetzen. Gaspar Noés Climax erwischte mich an einem verregneten Sonntag beim Filmfestival in Cannes (ja, das gibt es) und versorgte mich trotz der frühen Stunde (es dürfte gegen 9 Uhr in der Früh gewesen sein) mit genügend Adrenalin, um locker vier weitere Filme an diesem Tag durchzustehen. Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Kultklassiker Suspiria (im Original aus dem Jahre 1977) traf mich ebenfalls bei Regen in einem kleinen abgeranzten Programmkino mit gammelig-angegilbtem Charme in Süddeutschland – eine Ortswahl, die sich im Nachhinein als kongenial für das kommende cineastisch-fantastische Ereignis erweisen sollte.

Beide Filme drehen sich um das Tanzen. Oder vielmehr: Das Tanzen dreht sich um die Filme, strukturiert und pointiert sie und ist wesentliches Motiv und Thema. Bei Noé als ekstatischer Dauerzustand, der mit zunehmender Berauschtheit immer mehr zu einem Stolpern, Taumeln und Fallen gerät, bei Guadagnino als sich steigernde Exerzitien, die von Olga’s Last Dance über Volk bis hin zu Black Sabbath reichen, der den tänzerischen Höhepunkt des Films darstellt.

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Zum Weiterlesen: Eine Ausführliche Analyse der Tänze in Suspiria durch den Choreographen Damien Jalet.

 

Trotz ihrer dramaturgisch recht unterschiedlichen Verwendung sind die Tänze in beiden Filmen wesensverwandt in ihrer sich immer mehr verschiebenden Balance zwischen Disziplin und Chaos, Kontrolle und Rausch, Individualisierung gegen Gruppenerlebnis und -zwang und verweisen damit auf Grundkonflikte menschlichen Daseins, die weit über das Tanzen hinausgehen.

Was beide Filmen zudem miteinander verbindet: Obwohl sie in einer vergangenen Zeit verortet sind – Suspiria im „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977, Climax in der Mitte der 1990er Jahre –, so meinen sie doch beide die Gegenwart des Jahres 2018 mit. Im Subtext der beiden Filme finden sich Hinweise und Querverbindungen zu unserer aus den Fugen geratenen Gegenwart, sind Tanz und Ekstase Ausdruck und Gegengift turbulenter Verhältnisse und einer kollektiven Hysterie, die sich in den Verrenkungen und Windungen der Körper ein Ventil sucht.

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Selbst auf einen notorischen Nichttänzer wie mich (immerhin aber würde ich mich als leidenschaftlichen zuschauenden Tanzliebhaber zwischen klassischem Ballett, Contemporary und anderen Formen des tänzerischen Ausdrucks bezeichnen) blieben beide Filme – nicht nur, aber auch – wegen der Tanzszenen in bleibender Erinnerung und gehören für mich auf verschiedene Weise zum Besten, was ich in diesem Jahr auf der großen Leinwand gesehen habe.

Das Jahr 2018 war bestimmt kein leichtes – für die Welt nicht und auch nicht für die Kinos, die zumindest in Deutschland heftig Federn lassen mussten (während in Großbritannien, wie gerade publiziert wurde, 2018 ein Rekordjahr an den Kinokassen war). Wenn ich mir etwas wünsche soll fürs nächste Jahr, dann das: Dass das Kino und der Film endlich wieder mehr Raum einnehmen mögen im öffentlichen Diskurs. Dass eine neue, nicht nur intellektuelle, sondern auch ganz und gar sinnliche Lust am bewegten Bild entstehen und sich verfestigen möge.

Joachim Kurz

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