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Jahresrückblick

Je veux ton amour

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Verliebt im Kino – auf und vor der Leinwand: Wie Andreas Köhnemann in drei Filmen des Jahres sehr viel Schönes entdeckte und sechsmal sein Herz verlor.

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A Star Is Born - Bild
A Star Is Born - Bild

Klar, ich habe in diesem (Kino-)Jahr so einiges gehasst. Ich war zornig, genervt, enttäuscht. Manches war mir wiederum einfach gleichgültig. Aber ich habe mich auch verliebt. In Ally und Jackson, in Casey und Jin, in Elio und Oliver. Eine großartige, polyamoröse Erfahrung.

Im Herbst, auf dem Festival Internacional de Cine de San Sebastián, waren es Ally und Jackson aus A Star Is Born, verkörpert von Lady Gaga und Bradley Cooper, in die ich mich mal eben schockverliebte. Eine Kellnerin mit Gesangsambitionen und ein abgetakelter Country-Star, die sich begegnen. Sie steigt auf, er fällt immer tiefer. Alkohol und Drogen, Konzerte und Fernsehauftritte, dazwischen sehr viel Flirten, Fake-Augenbrauen und Tiefkühlerbsen, eine Blitzhochzeit, Streit und Sex, Verletzungen und Empathie. Wenn die beiden sich auf dem nächtlichen Parkplatz eines Supermarktes näherkommen, ist das plötzlich der schönste Ort der Welt. Und dann das Lachen von Ally … Es gab Tage in diesem Jahr, da hätte ich einen 24-Stunden-Supercut, der nur aus diesem beseelten Lachen besteht, gut gebrauchen können. A Star Is Born hat den Mut, all die übergroßen Gefühle zuzulassen, die sich seit Douglas Sirk kaum noch jemand traut. Und ich habe sie alle aufgesogen.

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Anfang des Jahres, auf dem immer empfehlenswerten Unknown-Pleasures-Filmfestival, gab es wiederum Casey und Jin (Haley Lu Richardson und John Cho) aus Columbus. Zwei Menschen, die vor allem verbindet, dass sie irgendwie an einen Elternteil gebunden sind: Casey an ihre Mutter, die sich bemüht, clean zu bleiben; Jin an seinen Vater, der im Koma liegt. Es ist ein Film über eine platonische Liebe, vielleicht auch mehr. Eine Liebe, die in Unterhaltungen entsteht, beim gemeinsamen Umherdriften in der titelgebenden Stadt. In einer Szene versucht die architekturinteressierte Casey Jin zu erklären, weshalb sie so fasziniert von einem Gebäude ist. Wir hören nicht, was sie sagt, wir sehen nur die glühende Begeisterung in ihrem Gesicht, als sie endlich die richtigen Worte findet. Und ich konnte völlig verstehen, weshalb Jin sich in diesem Moment in sie verliebt. Begeisterungsfähigkeit und aufrichtige Leidenschaft sind extrem sexy. Und ich konnte auch verstehen, weshalb Casey sich in diesem Moment in Jin verliebt. Jemand, der dir zuhört, dem wirklich etwas daran liegt, was du zu sagen hast – den kann man schon mal verdammt attraktiv finden.

Haley Lu Richardson und John Cho in Columbus; Copyright: Superlative Films
Haley Lu Richardson und John Cho in Columbus; Copyright: Superlative Films

 

Und zwischen diesen zwei Filmen und diesen vier Lieben war da im März – und dann noch mal und noch mal – Call Me by Your Name, mit Elio und Oliver (Timothée Chalamet und Armie Hammer). Zwei junge Männer, der eine 17, der andere 24, ein Sommer in den frühen 1980er Jahren in Norditalien und ein Begehren, das von der ersten Sekunde an im Raum ist und doch lange braucht, um endlich das Hervorbrechen zu wagen – auch weil sich beide zunächst selbst im Wege stehen. Es wird herrlich schlecht getanzt; auf Nasenbluten am Outdoor-Esstisch folgt eine der romantischsten Sequenzen des Jahres und auf die Masturbation mit einem Pfirsich der schönste Wortwechsel, den ich jemals gehört habe, weil er alle Scham und Verurteilung tilgt (Elio: „I’m sick, aren’t I?“ – Oliver: „I wish everyone was as sick as you.“). „I remember everything“, heißt es am Ende – und mir wird es nicht anders gehen.

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Den reality check würden meine Kinolieben größtenteils wohl nicht bestehen. Sie würden kein hochdramatisches oder bittersüßes, sondern wahrscheinlich ein ziemlich banales Ende finden. Ich selbst würde die Art, wie Jackson Ally dazu bringt, mit ihm aufzutreten und ihn auf seiner Tournee zu begleiten, vermutlich nicht als aufregendes Abenteuer, sondern als Übergriff empfinden. Ich könnte auch nicht so souverän wie Ally reagieren, wenn mir der Mensch, den ich liebe, ein Creme-Törtchen ins Gesicht schmieren würde, statt mit mir zu diskutieren. Ebenso würde mich das Spiel um Nähe und Distanz, das Elio und Oliver im Laufe des Sommers miteinander spielen, mit all den widersprüchlichen Signalen und plötzlichen Rückzügen eher zermürben, vielleicht sogar zerstören. Aber so ist das eben mit dem Erdachten und der Realität. In der Fiktion sind mir die Tänze am liebsten, in die sich etwas Melancholisches, Bitteres mischt, sei es zu stadiontauglichem Country-Rock-Pop oder zu Love My Way von den Psychedelic Furs; als Zuschauer und Leser bevorzuge ich die Partys, an deren Ende alle weinen. Im echten Leben eher nicht.

Es wird im kommenden (Kino-)Jahr sicher erneut vieles geben, was mich ärgern oder langweilen, mich wütend, traurig oder müde machen wird. Die Hoffnung, dass ich mich von manchem aber auch mitreißen lassen kann, dass ich mich gegen alle Vernunft wieder in Menschen wie Ally oder Elio, in deren Taten und Worte verlieben werde, gebe ich deshalb allerdings nicht auf.

Andreas Köhnemann
Andreas Köhnemann

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