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Jahresrückblick

Jahresrückblick 2022: Die Rückkehr zum Normalzustand?

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Meinungen
Filmstills zu Drei Winter / Aftersun / Der schlimmste Mensch der Welt
Drei Winter / Aftersun / Der schlimmste Mensch der Welt

Nein, 2022 ist kein normales Kinojahr. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Verheerung, die SARS-CoV19 in der Kulturlandschaft angerichtet hat, zu tief sitzt der Schock, dass das Publikum den Weg noch nicht in ausreichendem Maße zurück in die Kinos gefunden hat. Es ist ein Jahr des Zweifelns und des Zauderns und der großen Verunsicherung darüber, wie es wohl weitergehen mag mit dem Kino. Auch wenn nun zum Jahresschluss ausgerechnet James Cameron mit Avatar: The Way of Water möglicherweise für einen versöhnlichen Ausklang für viele Kinobetreiber sorgen mag, so steht doch der Film gleichermaßen symptomatisch für eine allgemeine Entwicklung, in der nur noch die ganz großen Acts, die Mega-Blockbuster und Superstars für ausreichenden Zuschauerzuspruch sorgten, während die große Masse der Filme und Acts an den Kassen verhungert. Nun mit dem Auslaufen der coronabedingten Hilfsprogramme und befeuert durch die enorme Inflation droht im nächsten Jahr ein Kahlschlag in der gesamten Kultur (und nicht nur da), der etlichen Kinos und anderen Kulturanbietern das Genick brechen könnte.

Und so gerieten die Filme fast ein wenig in den Hintergrund und es ballen sich die Highlights zumindest bei mir am Anfang und am Ende des Jahres, was auch ein wenig damit zu tun hat, dass 2022 etwas anderes bei mir im Mittelpunkt stand — doch dazu später mehr.

 

Ein seltsam geteiltes Jahr

Schmählich übersehen, was womöglich auch daran lag, dass der Film bei seinem deutschen Kinostart vor beinahe einem Jahr seine Premiere gehabt hatte, war Favolacce / Bad Tales — Es war einmal ein Traum von Damiano und Fabio d’Innocenzo, der 2020 bei der Berlinale den silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen hatte. Ebenfalls im Januar startete zudem mit Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarabi einer der besten und eindrücklichsten deutschen Filme seit gefühlt zehn Jahren. Und Ninja Thybergs Pleasure komplettierte dann einen furiosen Jahresbeginn, der sich zwar nicht durch gute Laune, aber durch intensives Gefühlskino der dunklen Sorte auszeichnete. Irgendwie kein Wunder, dass der von vielen hochgelobte Licorice Pizza mich nicht gleichermaßen packte, sondern eher indifferent und manchmal leicht genervt zurückließ.

Fast schon naturgemäß legte das Kinojahr im Februar die traditionelle Berlinale-Pause ein, bevor im März mit Mike Mills’ Come on, Come on und Das Ereignis von Audrey Diwan zwei weitere persönliche Jahreshighlights in die deutschen Kinos kamen, denen bereits im April mit Everything Everywhere All at Once von Dan Kwan und Daniel Scheinert sowie Vortex von Gaspar Noé zwei weitere meiner Lieblingsfilme des Jahres folgten. Im Mai habe ich mich dann in Cannes schockverliebt in Joachim Triers Der schlimmste Mensch der Welt, bevor dann eine jähe Pause beim intensiven Sichten von Filmen eintrat. Und die hatte ihren ganz speziellen Grund.

Denn mein Jahr 2022 war von einem etwas anderen Blick auf die Filmbranche geprägt. Dabei ging es weniger um die Filme selbst, sondern um eine wichtige Form, wie sie in die Welt gelangen und ihre ersten Auftritt vor Publikum feiern können. Neben meiner Arbeit für Kino-Zeit habe ich mich gemeinsam mit der Filmfestivalforscherin Tanja C. Krainhöfer seit dem Herbst 2021 einem Buchprojekt gewidmet, das dann im Oktober diesen Jahres erschien. Es heißt Filmfestivals — Krisen, Chancen, Perspektiven und widmet sich unter anderem der Frage, warum Festivals so vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie gekommen sind und ob in ihnen nicht vielleicht ein Teil der Lösung der Krise der Filmkultur liegen könnte. Für mich steht seitdem fest, dass neben den Kinos auch die Filmfestivals unverzichtbar sind, wenn es darum geht, Filmkultur zu erhalten. Es ist mehr als überfällig, dass diese Erkenntnis auch bei der Politik ankommt.  Doch zurück zum eigentlichen Thema

 

Das Beste kommt zum Schluss (und ein paar Ergänzungen)

Michael Kochs asketisch-wuchtiger Drei Winter, Luca Guadagninos zärtlich-brutales Kannibalendrama Bones and All und der flirrend-delirierende Aftersun von Charlotte Wells gehören mit Sicherheit zum Besten, was das Kinojahr für mich zu bieten hatte. Wobei mir gerade jetzt beim Schreiben klar wird, wie viel ich sträflicherweise ausgelassen habe bei diesem Resümee: Den wunderbaren und überaus charmanten Kinderfilm Geschichten vom Franz etwa oder Uli Deckers großartigen Dokumentarfilm Anima — Die Kleider meines Vaters, der neben Ruth Beckermanns Mutzenbacher und Claudia Müllers Porträt der von mir hochverehrten Literatur-Nobelpreisträgern Elfriede Jelinek — Die Sprache von der Leine lassen zu den Höhepunkten des dokumentarischen Kinos zählte, ebenso wie Cem Kayas Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod.

Und je mehr ich drüber nachdenke, so war dieses Kinojahr 2022 doch bei aller Lückenhaftigkeit und zahlreichen Filmen, die ich erst noch nachholen muss, doch kein schlechtes. Für die Top Ten gilt allerdings das, was auch den Protagonisten von Nick Hornby in seinem Buch „High Fidelity“ umtreibt: Kaum hat man sie zu Papier gebracht bzw. in eine Tastatur gehämmert, fällt einem auf, dass sie grundfalsch ist und spätestens morgen schon wieder ganz anders aussehen würde. Deshalb ohne jegliche Gewähr und lediglich als Momentaufnahme zu verstehen.

 

Joachims Top 10 des Jahres

(in mehr oder weniger beliebiger Reihenfolge)

Aftersun
Drei Winter
Der schlimmste Mensch der Welt
Bones and All
Pleasure
Meine Stunden mit Leo
Corsage
Sonne
Anima — Die Kleider meines Vaters
Niemand ist bei den Kälbern

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