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Jahresrückblick

Blicke

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Sonja Hartl sind aus dem Kinojahr 2018 vor allem die vielsagenden Blicke in Erinnerung geblieben, die sich zahlreiche Figuren zugeworfen haben. Und dazu noch ein gewisses Gabelstaplerballett…

Meinungen
Filmstill zu In den Gängen (2018)
In den Gängen (2018) von Thomas Stuber

Ein Supermarkt in der Nacht, leere Gänge, umsäumt von hohen Regalen, leicht beleuchtet von den noch brennenden Lampen. „An der schönen blauen Donau“ erklingt und ein Gabelstapler macht sich auf den Weg. Er fährt durch die Gänge, nahezu grazil schiebt er sich an den Waren vorbei. Die Musik steuert auf einen ersten Höhepunkt zu – und dazu passend kommt ein zweiter Gabelstapler hinzu. Es ist ihre Anmut, die mich überrascht, dazu kommt die betörende Symmetrie dieser Einstellungen, dieses Films. In den Gängen hat eine Mischung aus verschrobenem Humor und Melancholie, der ich mich nicht entziehen konnte – und dann gibt es ja auch noch Bruno, den Chef der Getränkeabteilung, gespielt von Peter Kurth. Ein ganzes Leben steckt in seinem Gesicht, eine Traurigkeit, die immer wieder aufblitzt und dann später offenbar wird, eine Traurigkeit, die mein Herz ein wenig brechen lassen wird.

Es sind die Gesichter, die Blicke, die mich dieses Jahr nicht loslassen werden. Wenig später, ein anderer Film. Ein Polizist liegt auf dem Boden, getötet von einem Mann, der schwer traumatisiert ist vom Krieg und von Gewalt, der die Verlorenheit und Einsamkeit kennt. Auch er liegt auf dem Boden und nimmt die Hand des sterbenden Mannes. Aus dem Radio erklingt ein kitschiger Schlager – und inmitten des Bluts, der brutalen Eruption entsteht ein Moment betörender Zärtlichkeit. Beim Sterben sei jeder alleine, heißt es. Doch ausgerechnet in Lynne Ramsays A Beautiful Day, der voller Menschen steckt, die alleine und allein gelassen sind, stimmt das nicht. Es ist nicht nur die Geste, es ist auch die Musik, die in dieser Szene wie in dem gesamten Film großartige Akzente setzt. Und wieder sind es Blicke, die sich schmerzhaft einbrennen. Das beinahe fast zärtliche Verständnis, dass niemand alleine sterben will. Oder der Blick eines Kindes, in dem ein Erkennen liegt – das Erkennen, dass der Mann, der ihm gegenübersteht, weiß, wie viel Gewalt ein Körper auszuhalten hat. 

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Diese Blicke: Wenn Birgit Minichmayr als Hilde in 3 Tage in Quiberon erkennt, dass ihre Freundin nicht gerettet werden will. Andrea Berntzen in Utøya 22. Juli am Anfang direkt in die Kamera blickt und sagt, man werde es nie verstehen, und zu spüren ist, dass das stimmt. Es kann nur Versuche geben, dieses Attentat und Gewalttaten wie diese zu verstehen – und dieser Film ist einer. Aber wirklich verstehen, wird man es nie. Der Blick des Vaters auf seine Tochter am Anfang von Thelma, in dem Moment, in dem er seine Waffe auf das Mädchen richtet. Ein ungeheuerliches Tabu, eine schreckliche Tat kündigt sich an, der Mann ist schockiert, verzweifelt, während seine Tochter ihn völlig ruhig anschaut. Ohnehin die Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern, die stete Hoffnung im Blick der Jüngeren, dass der Vater sie nicht enttäuscht. In Was werden die Leute sagen wird es lange dauern, bis Nisha (Marie Mozhdah) erkennt, dass das Urvertrauen, das sie für ihren Vater hat, enttäuscht wird und sie ohne ihn einen Weg finden muss.

Wie viel über Blicke erzählt werden kann, zeigen – fast bin ich geneigt, ausgerechnet! zu schreiben – zwei Literaturverfilmungen. Da sind die Blicke, die sich Saoirse Ronan und Billy Howle in Am Strand zu werfen, die ihre Sprachlosigkeit, ja, nicht nur ihre Unfähigkeit, sondern nachgerade die Unmöglichkeit ausdrücken, in Worte zu fassen, was sie sagen wollen. Sie kennen diese Worte nicht, sie haben keine Sprache für Sexualität und Scham. Ein Blick reicht auch Emma Thompson in Kindeswohl, um die Auswirkungen der Entscheidung ihres Mannes auf ihr Leben erkennen zu lassen. Es ist ein Blick hinter die Fassade dieser kontrollierten Frau, ein Blick auf ein in den Grundfesten erschüttertes Leben. Zugleich ist es aber auch dieser Blick, der verstehen lässt, dass es ein Zurück geben wird, das mehr ist als der behagliche Weg. 

Foto Sonja Hartl

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