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Interviews

„Schaut bitte, was wir falsch machen!“ – Michel Franco über "New Order"

Ein Beitrag von Paul Katzenberger

In dem radikalen Endzeit-Thriller „New Order – Die Neue Weltordnung“ schlittert eine sozial extrem gespaltene Gesellschaft ins Verderben, nachdem die Armen zum gewaltsamen Aufstand gerufen haben. Michel Franco betrachtet seinen Film als Warnung an uns alle.

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Regisseur Michel Franco und sein neuer Film "New Order"
Regisseur Michel Franco und sein neuer Film "New Order"

Die Stimmung könnte kaum besser sein: In einer luxuriösen Traumvilla feiert die gehobene Gesellschaft die Heirat der Tochter des Hauses mit einem rauschenden Fest, als gäbe es kein Morgen mehr. Doch vor den hohen Mauern des Anwesens braut sich Unheil zusammen: Die Armen erdulden ihr Schicksal nicht länger und erheben sich. Die Hochzeitsparty wird gestürmt. Es folgen: unvorstellbare Gewalt, Leichenberge auf den Straßen und schließlich die brutale Niederschlagung des Aufstands sowie die Herstellung eines totalitären Systems, das seinen Bürgern alle Freiheitsrechte entzieht. Die Dystopie New Order – Die Neue Weltordnung wirft einen düsteren Blick auf die modernen Gesellschaften mit ihren sozialen Verwerfungen – und dem, was daraus folgen könnte.

 

Kino-Zeit: In „New Order“ gibt es drei Parteien: Die Oberschicht, die Unterschicht und die Sicherheitskräfte. Letztere spielen die zwei anderen Gruppen gegeneinander aus. Warum haben Sie das Szenario so konstruiert? Halten Sie es für typisch, wenn wir historische Beispiele von Revolutionen betrachten?

Michel Franco: Nein, an historischen Beispielen habe ich mich nicht orientiert. Mir ging es darum, den Kollaps einer Gesellschaft in einer Dystopie darzustellen, die nicht notwendigerweise in allen Punkten realistisch ist. Ich habe auch nicht so sehr an drei Gruppierungen gedacht, sondern mehr an eine Gesellschaft, die endgültig zerbricht, und an die schlimmen Konsequenzen, die das hat. Der Film zeigt, wie bedrohlich es werden kann, wenn die Bevölkerungsmehrheit in schlimmer Armut leben muss, während gleichzeitig eine kleine Oberschicht allen Reichtum in den Händen hält und die Regierung durch das Militär die Kontrolle in totalitärer Weise erlangt. Das sind alles Dinge, die mich beunruhigen.

Aber besteht die typische Konstellation nicht darin, dass die Oberschicht die Unterschicht kontrolliert und dafür die Sicherheitskräfte an ihrer Seite weiß?

In Mexiko und Lateinamerika ist das nicht unbedingt so. Dort geht es den Wohlhabenden nicht so sehr um politische Macht, sondern in erster Linie versuchen sie immer, ihren Reichtum zu bewahren. Um das zu erreichen, sind sie um ihre Sicherheit bemüht. Deswegen engagieren sie private Wachleute. Doch wenn es hart auf hart kommt, bieten diese keine Gewähr für die körperliche Unversehrtheit der Menschen, die sie bewachen. So zeige ich das auch im Film. Als die Plünderer ins Haus kommen, laufen die Wachleute sofort zu diesen über. Etwas allgemeiner gesprochen hat die Oberschicht in Lateinamerika häufig keine Garantie dafür, ihren Reichtum zu sichern, denn die Regierungen haben möglicherweise eine andere Agenda.

Sprechen Sie zum Beispiel von Venezuela, wo der verstorbene Präsident Hugo Chávez 2006 das Privateigentum abgeschafft hat?

Ja, das ist auch ein Beispiel. Man könnte auch Chile oder Kuba nennen. Nach der kubanischen Revolution 1959 nahm die Familie Castro amerikanischen Mafiosis und ihren kubanischen Lobbyisten das Geld ab, nur um es unter sich und damit auf eine noch kleinere Gruppe von Menschen zu verteilen. Auch alle politische Macht ging auf die Castros über. Es ist typisch für Lateinamerika, dass eine kleine Gruppe Macht und Geld an sich reißt, entweder unter der Fahne rechter oder linker Ideologien, welche sich eben gerade besser anbietet. Das größte Problem Lateinamerikas ist die sehr ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie die Korruption, die dafür sorgt, dass die Kluft zwischen arm und reich bestehen bleibt.

 

„Ich wollte keinen Film machen, der nur von Mexiko spricht.“

 

Man kann im Film erkennen, dass die Handlung in Mexiko spielt. Aber das wird nur angedeutet: In einem Zimmer der gestürmten Villa sprühen die Plünderer Slogans in grün und rot, was zusammen mit der weißen Wand die Nationalfarben Mexikos ergibt. Einmal sieht man auch die Flagge Mexikos. In wieweit erzählt „New Order“ etwas über die spezifische Situation in Mexiko und in wieweit ist der Film Ausdruck der sozialen Spaltung, die wir überall auf der Welt beobachten können?

Ich glaube, dass man als Filmemacher immer spezifische Situationen darstellen muss, um allgemeingültige Sachverhalte aufzuzeigen. Aber ich wollte keinen Film machen, der nur von Mexiko spricht. Ich hoffe zum Beispiel, dass auch die französischen Koproduzenten mit dem Film etwas anfangen können, in deren Land sich die Xenophobie breit macht und die Rechtsextremen von der Rassemblement National versuchen, an die Macht zu kommen. Wie haben Sie als Deutscher den Film wahrgenommen?

 

„New Order“ (c) Ascot Elite

 

Als sehr düster. Denn als Deutscher musste ich natürlich an den jüngsten Volksaufstand in Deutschland denken, die friedliche Revolution in der DDR, die zur deutschen Wiedervereinigung führte. Das war tatsächlich ein Umsturz, der die Demokratie zur Folge hatte, auch wenn es mit dem sozialen Frieden schwieriger war. In „New Order“ folgt der Volkserhebung hingegen eine Apokalypse. Glauben Sie, dass Revolutionen auch gut ausgehen können?

Revolutionen haben die Geschichte der Menschheit sicher nachhaltig beeinflusst und ihren Zweck oft erfüllt. Aber natürlich ist es nach blutigen Volksaufständen oft schwierig, wieder ins Gleichgewicht zu finden. In Mexiko haben wir vor etwas mehr als 100 Jahren eine sehr schlechte Erfahrung mit der Revolution gemacht. Als Nachspiel kam es zur Diktatur der „Partei der institutionalisierten Revolution“, ein Name, der einen Widerspruch in sich selbst darstellt.

Und ist eine evolutionäre Entwicklung hin zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit aus Ihrer Sicht denkbar? So wie sie möglicherweise die skandinavischen Länder im 20. Jahrhundert zustande gebracht haben?

Es ist natürlich besser, wenn sich Dinge ohne Gewaltanwendung zum Besseren verändern. Aber die Menschen sind oft nur auf den eigenen Vorteil bedacht und verweigern Tag für Tag der Bevölkerungsmehrheit das, was ihr zusteht. Deswegen kommt es zu den extremen Umstürzen, die wir immer wieder erleben. Die Geschichte lehrt uns das leider. Es mag sein, dass ich pessimistischer bin als Sie, weil ich aus Mexiko komme. Vor der Pandemie hatten wir 60 Millionen arme Menschen in Mexiko, jetzt sind es zehn Millionen mehr. Niemanden kümmert das. Man spricht darüber, aber wirklich geholfen wird nicht. 

 

„Wir entwickeln uns zurück.“

 

Allzu optimistisch, was den sozialen Frieden angeht, kann wohl niemand mehr sein. Denn die soziale Schere geht überall auf der Welt auf. Auch in Deutschland wächst die Armut. Das, was an sozialem Frieden im 20. Jahrhundert in Westeuropa erreicht wurde, geht wieder verloren.

Wir entwickeln uns zurück, und das macht es mir schwer, positiv eingestellt zu bleiben. Es wäre mir viel lieber, wenn ich es könnte. Ich hatte das Gefühl: Das Einzige, was ich tun kann, ist diesen Film zu machen, der sicher wenig Trost bietet. Auf meine Art und Weise sage ich damit: ‚Haltet inne und schaut bitte, was wir falsch machen!‘

Der Film ist also als Warnung zu verstehen. Ist auch das Gemälde mit dem Titel „Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen“ von Omar Rodriguez-Graham, das im Film als allererstes gezeigt wird, ebenso eine Mahnung?

Ja, der Titel dieses Gemäldes löst bei mir viele Assoziationen aus und drückt sehr direkt aus, von was der Film handelt. Der ganze Film könnte beinahe so heißen wie Omars Bild, wegen des Chaos, das es darstellt, und seiner Nähe zur mexikanischen Realität, in der jeden Tag 100 Menschen abgeschlachtet werden. Ich habe einfach Angst vor Gewalt. Denn wenn die Gewalt einmal explodiert, dann wird sie zu einem Teufelskreis, in dem der einen Gewaltaktion die nächste folgt. Und leider sind wir schon in diesem Teufelskreis. Denn wenn Menschen dazu verdammt sind, in Armut ohne Gesundheitsversorgung und Zugang zu Bildung zu leben, dann ist das systematische Gewalt, und zwar täglich.

In „New Order“ ersparen Sie dem Zuschauer nichts: Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und Erschießungen bei der kleinsten Regelverletzung. Glauben Sie, dass Filme provokativ sein müssen, wenn sie Diskussionen auslösen sollen? Denn Ihre Filme „Chronic“ und „After Lucia“ waren auch schon sehr provokant.

Das ist das, was mir gefällt, wenn ich mir einen Film ansehe: Dass ich Erschütterungen ausgesetzt werde und ich mich selbst fragen muss, wie ich dazu stehe, was ich auf der Leinwand sehe. Jeder meiner Filme ist auf seine eigene Art provokativ. Das ist sicher so.

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