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"Ich hoffe, dass Lion einen Dialog anstoßen kann" – Garth Davis im Interview

Ein Beitrag von Anna Wollner

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Lion

Es ist eine Geschichte, die zu Tränen rührt. Der fünfjährige Saroo reist versehentlich und alleine 1600 Kilometer durch Indien, landet vollkommen verängstigt in Kalkutta, wird von einem australischen Paar adoptiert und macht sich 25 Jahre später mit Google Earth auf die Suche nach seinem Heimatdorf. Lion mit Dev Patel, Nicole Kidman und der Neuentdeckung Sunny Pawar in den Hauptrollen ist für sechs Oscars nominier und ein absoluter Tearjerker, bei dem kein Auge trocken bleibt. Es ist das Spielfilmdebüt vom australischen Fernsehregisseur Garth Davis. Anna Wollner hat ihn beim Toronto International Filmfestival getroffen.

Mr. Davis, „Lion“ ist Ihr Spielfilmregiedebüt. Warum haben Sie sich dafür ausgerechnet eine indische Geschichte ausgesucht?
Die Gelegenheit war günstig. Möglichkeiten wie diese muss man einfach am Schopfe packen. Lachen Sie jetzt bitte nicht, aber ich war mit 19 mit meiner Freundin backpacken in Vietnam. Sie hat mich überredet, zu einer Wahrsagerin zu gehen. Die Dame las mir aus der Hand und prophezeite mir in gebrochenem Englisch: „Ohhh. Großer Film. Indien.“ Ich dachte, sie sei verrückt und wollte erst gar nichts bezahlen für ihre Dienstleistung. Jetzt sollte ich eigentlich zurück und sie fürstlich entlohnen.

Wie bekannt ist die Geschichte von Saroo Brierley in Australien?
Bekannter als ich dachte. Als ich auf Location-Suche in Tasmanien unterwegs war, in der Gegend in der Saroo groß geworden ist, kam einmal ein Farmer auf mich zu und regte sich darüber auf, dass ich unrechtmäßig seinen Besitz betreten habe. Er schrie mich an, wollte wissen, was ich hier mache. Als ich ihm entgegnete, ich würde die Lebensgeschichte von Saroo verfilmen, hat er mich ins Haus gebeten, wollte mir Abendessen anbieten und mich jederzeit unterstützen. Er war unglaublich stolz auf Saroo und seine Geschichte.

Wie haben Sie die Mutter von Saroo erlebt?
Sie war vor allem dankbar, dass Saroo noch lebt. Viele Inder glauben an das Schicksal. Sie glauben, dass Dinge, die passieren, vorhergesehen sind. Sie glaubt auch heute noch, dass es einfach Saroos Schicksal war, aus der Armut gezogen zu werden und nach Australien zu dürfen.


Trailer zu Lion

Die Hälfte des Films wird von einem fünfjährigen Jungen getragen. Wie war die Arbeit mit dem jungen Saroo, gespielt von Sunny Pawar?
Oh, da sagen Sie was. Wir wurden schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgezogen, als wir merkten, wie viel filmische Last Sunny auf seinen Schultern trägt. Immerhin stand er noch nie in seinem Leben vorher vor einer Kamera. Das war ernüchternd. Ich bin recht schnell aus meinem schönen Filmtraum aufgewacht. Wenn Sie so wollen, war das die größte Herausforderung des ganzen Films. Denn das Publikum muss sich sofort in Saroo verlieben. Er hat schon gleich zu Beginn ein paar sehr große Szenen.

Wie haben Sie Sunny Pawar gefunden?
Wir hatten eine indische Castingagentur und schon sehr früh angefangen zu suchen. Wir mussten uns sehr früh auf ein Kind festlegen, damit wir genug Zeit für den bürokratischen Aufwand hatten. Visa für Australien etc. Wir konnten also kein großes Casting in den Slums machen — so wie Slumdog Millionär. Wir waren in Schulen und haben uns da umgesehen. Sunny ist von einer sehr einfachen Schule außerhalb von Mumbai. Er lebt dort in einem Jungeninternat.

Was hat Sie an Ihren australischen Figuren angezogen?
Bei Sue, seiner Adoptivmutter, war es vor allem ihre Stärke. Ihr unbändiger Wunsch und Wille Kinder zu adoptieren und zu einem besseren Leben zu verhelfen. Zwischen Sue und Nicole Kidman ist am Rande der Dreharbeiten eine ganz eigene Dynamik entstanden. Sue hat Nicole bewundert, weil sie ein Hollywoodstar ist. Und Nicole hat Sue für ihre Ausdauer und Lebensleistung bewundert.

Wie eng war Ihre Zusammenarbeit mit den indischen Fachkräften vor Ort?
Für mich als Regisseur war sie natürlich sehr intensiv. Das hat mir geholfen, eine Verbindung zu den Charakteren aufzubauen. Als wir uns in Indien eingerichtet haben, habe ich einen vollkommen neuen Zugang zu unserer Geschichte bekommen. Ich konnte viel besser eintauchen in das Material und mich besser einfühlen.

Hatten Sie Unterstützung von Google Earth?
Nicht finanziell, falls Sie das meinen. Aber sie haben uns geholfen, die Benutzeroberfläche von damals nachzubauen. Es hat sich in den letzten fünf Jahren ja viel verändert. Google Earth ist heute viel detailreicher als damals. Aber das waren für uns schon zu viele Details. Wir wollten ja einigermaßen genau sein. Deswegen mussten wir gemeinsam Google Earth reduzieren.

Was erhoffen Sie sich, kann „Lion“ für adoptierte Kinder bedeuten?
Ich hoffe, dass Lion einen Dialog anstoßen kann. Ich selbst hatte kaum eine Ahnung vom Adoptionsrecht, vor allem im Ausland. Ich hoffe aber auch einfach, dass Saroo Brierly die Möglichkeit bekommt, über sein außergewöhnliches Leben erzählen zu können. Und glauben Sie mir, er hat jede Menge zu erzählen.

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