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Interviews

„Ich bin als Feministin geboren“

Ein Beitrag von Maria Wiesner

Agens Varda wird 90 — und hat einen neuen Film gemacht. Ein Interview über die Entstehung von Augenblicke: Gesichter einer Reise, ihren Einfluss auf die Novelle Vague und ihre Beziehung zu Jean-Luc Godard.

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Augenblicke - Gesichter einer Reise - Bild
Augenblicke - Gesichter einer Reise - Bild

Frau Varda, ich erreiche Sie gerade in Ihrer Wohnung in Paris. Für den Dokumentarfilm Augenblicke: Gesichter einer Reise sind Sie quer durch Frankreich gefahren. Wie kamen Sie auf die Idee für den Film?

Ich habe keine Jahrespläne, die ich strikt verfolge. Vielmehr warte ich immer darauf, dass mich eine Frage so sehr umtreibt, dass ich sie dann mit einem Film beantworten will. So war das bei Die Sammler und die Sammlerin (2000). Da saß ich auf einem Markt und diese Menschen kamen und hoben Essen und Zurückgelassenes auf. Also dachte ich mir, das ist doch ein Thema, das sollte ich mir einmal in der Stadt und auf dem Land ansehen. Und eine Woche später drehte ich auch schon an dem Film. Bei Die Strände von Agnès (2008) war es ähnlich, das war auch so eine Art Reisetagebuch. Im vergangenen Jahr habe ich mich auf meine Kunst konzentriert, eine Installationsausstellung von mir ist gerade in Paris zu sehen. Naja, ich war beschäftigt. 

Und dann sagte meine Tochter eines Tages zu mir: Warum kennst Du eigentlich JR noch nicht? 

Den französischen Fotografen und Streetart-Künstler…

Genau. Meine Tochter sagte: Trefft Euch mal. Das taten wir, er machte drei Bilder von mir und danach beschlossen wir, dass wir zusammen ein Projekt machen sollten. Das kam von ganz alleine. Ich habe mich in seine Arbeiten verliebt. Er macht aus diesen kleinen passbildgroßen Porträt-Aufnahmen diese riesigen Poster, die er an Mauern klebt. Das ist wie Magie für die Leute, wenn sie ihr Gesicht so übergroß an der Wand sehen. Also sagte ich zu ihm: Du als Künstler musst aus der Stadt raus, komm mit mir raus aufs Land, lass uns einen Trip zusammen machen. 

Daraus wurde dann „Augenblicke“. Wie sah die Zusammenarbeit für den Film dann aus?  

Ich mag es gar nicht, über das Projekt ohne ihn zu reden. JR war gerade in Hawaii und San Francisco und ist jetzt irgendwo im Flugzeug. Nun denn, für meine Dokumentarfilme mag ich es, mit Leuten zu reden. Und JR bringt verschiedene Menschen mit seiner Kunst, seinen Fotos zusammen. Für diesen Film haben wir also gemeinsam mit den Leuten gesprochen, ihnen zugehört, die Aufnahmen gemacht. Er hat die Porträts aufgenommen und sie auf die Mauern geklebt, ich habe mich auf den Schnitt des Films konzentriert. Seine Bilder zeigen die Menschen heldenhaft groß, und ich habe versucht, auch in meinem Film ein Porträt von ihnen zu zeichnen, das überlebensgroß ist. Wir haben beide viel Empathie für die Menschen, denen wir begegnet sind. Und das merkt man. Am Ende lieben Sie als Zuschauer Jeanine aus Nordfrankreich, die als Letzte in der Bergarbeitersiedlung ausharrt.

JR & Agnès Varda in "Augenblicke: Gesichter einer Reise"; Copyright: Weltkino Filmverleih
JR & Agnès Varda in „Augenblicke: Gesichter einer Reise“; Copyright: Weltkino Filmverleih

Warum haben Sie sich auf die Dörfer konzentriert?

Naja, was soll ich denn in der Wüste? (lacht) Und ich mag nicht in die Städte gehen. Städte sind immer gleich. Wir kannten die kleinen Dörfer nicht und haben sie zusammen erkundet. Wir hatten dabei auch viel Glück. Die Gespräche waren nicht durchorganisiert und vorangekündigt. Da gab es kein Casting. Es ist eben ein Dokumentarfilm und dafür braucht man etwas Vorrecherche und dann muss man Leute treffen. Wir sind also einfach hingefahren und haben an die Türen geklopft. Manchmal wurde uns nicht aufgemacht. Manchmal trafen wir jemanden wie Jeanine. Sie hat ein gutes Herz und ist nett, sie hat uns geholfen und sie hat uns die Geschichte ihres Vaters erzählt. Mein Vorgehen ist dabei kein klassisches Interview, mit steifen Fragen und Antworten. Ich suche vielmehr das Gespräch und dabei erzähle ich auch viel von mir. Und so kam eines zum anderen und am Ende ergab sich unsere Geschichte. Ich mag es so zu arbeiten. 

Eine der krassesten Begegnungen ihres Films zeigen sie am Ende, wenn Sie versuchen, Jean-Luc Godard zu treffen. Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?

In den sechziger Jahren waren wir Freunde, Jacques Demy, Anna Karina, Godard und ich. Wir haben zusammen Ferien gemacht. Dann hat er politische Filme gedreht und ein paar schwierige Zeiten durchlebt und er kam zu seinen alten Freunden nicht zurück. Eine Szene aus Die Strände von Agnès, die mit dem Akrobat, die hat er für Film Socialisme geklaut. Wir haben eine gute Beziehung, aber die liegt lange zurück. Für unseren Dokumentarfilm haben wir also ein Treffen ausgemacht und sein Assistent sagte: „Kommen Sie um 9.30 Uhr vorbei.“ Wir waren da — und was dann passierte, sehen Sie im Film: Er war nicht da, was wir nicht verstehen konnten.

Dann fanden wir die kleine Notiz am Fenster und ich war schockiert, denn er spielte da in Reimen mit Jacques Demys Namen und ich bin sehr empfindlich, wenn es um Jacques Demy geht. Und ich weiß, dass er das wohl als Zeichen der Freundschaft für Jacques gemeint hat, aber ich war trotzdem davon schockiert. Also sind wir zum See hinunter und haben darüber nachgedacht, was das wohl bedeutet. Und JR zitiert Anna Karina („Was kann ich nur tun?“), um mich aufzuheitern, denn es ging mir nicht gut. Und dann tat er mir einen Gefallen — und der schloss dann den Kreis und die Erzählung des ganzen Films. Es war süß, hatte am Ende aber einen bitteren Beigeschmack. Aber so ist es eben. Ich kann Godard da nicht böse sein. Ich bewundere seine Arbeiten und aus der Entfernung verstehen wir uns gut. 

Agnès Varda in "Die Strände von Agnès"; Copyright: Filmkinotext
Agnès Varda in „Die Strände von Agnès“; Copyright: Filmkinotext

Wenn von Novelle Vague die Rede ist, fallen zuerst immer die Namen Truffaut und Godard. Sie sind eine der wenigen Frauen…

Ich habe lange vor ihnen mit den Filmen angefangen: 1954. Das ist fünf Jahre, bevor Außer Atem entstand. Aber ich gehörte nicht mit zu ihrer Clique. Ich schrieb nicht für die Cahier du Cinema. Ich war Fotografin und hatte eine Idee für einen Film, also habe ich die allein umgesetzt. Ich hatte meine eigenen Ansichten dazu, wie das Licht und der Ton sein sollten, sehr radikale Ansichten für jene Zeit. So entstand La Pointe Courte. Und ich dachte mir damals, der wäre zu radikal, den würde niemand sich ansehen wollen. Er hatte auch kein großes Publikum. Aber er hatte seine eigene Sprache, seine eigene cinécriture, wie ich es nenne. Es ging nicht darum, ein Buch oder Theaterstück zu verfilmen, sondern eine genuine Geschichte im Kino zu erzählen. Es gab auch andere Frauen damals, die Filme drehten, aber keine versuchte es auf so radikale Weise wie ich. Ich will damit sagen, ich war nicht die einzige Frau, die damals Regie führte, aber ich war die radikalste. Radikaler auch als Godard und Truffaut. 

Dennoch wurden Sie erst in den vergangenen Jahren wirklich wiederentdeckt, wohingegen Truffaut und Godard seit Jahrzehnten Retrospektiven und Ehrungen erhalten. 

In den vergangenen fünf Jahren habe ich viele Ehrenpreise erhalten. Die Ehrenpalme in Cannes, den Ehrenoscar. Dies und das. All die Preise, die man alten Menschen gibt, wenn ihr Werk gut genug war. Über den Ehrenoscar war ich besonders glücklich, denn der bedeutet, dass eine Gruppe von Kinoliebhabern darüber diskutiert hat, wer diesen Preis erhält. Darüber bin ich sehr glücklich.

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Sie haben immer einen feministischen Ton in ihren Filmen…

Klar, ich bin ja auch Feministin! Ein interessanter Aspekt in meinem aktuellen Film ist diese Frau, die sagt: Wenn wir streiken, dann stehe ich hinter meinem Mann. Und ich fragte sie, warum dahinter sagt, warum nicht an seiner Seite? Selbst heute sind Frauen nicht daran gewöhnt, ihre eigene Situation so zu besprechen und den Platz einzunehmen, der ihnen zusteht: Neben dem Mann und nicht hinter ihm.

Haben Sie als Feministin die MeToo-Debatte verfolgt?

Ich bin als Feministin geboren und kämpfe seit den Sechzigern für die Rechte der Frauen. Damals war es noch nicht erlaubt, dass Frauen Hosen im Büro tragen. Als ich jung war, durften Frauen noch nicht eimal wählen oder ein Konto haben, ohne die Erlaubnis des Mannes. Wir haben da einen langen Weg zurückgelegt und viele Dinge haben sich gebessert. Aber das Verständnis, was eine Frau in der Gesellschaft ist, das müssen viele Männer noch lernen. Da sind wir immer noch hinterher. Heute schlagen all die Berichte über Vergewaltigungen und Belästigungen große Wellen, einiges mag übertrieben anmuten. Aber das muss manchmal sein. Am schlimmsten ist diese Form der männlichen Komplizenschaft. Jene Männer, die das Verhalten der anderen zwar nicht guthießen, aber deckten und verteidigten: Es sei nur zum Spaß gewesen, nur eine Art der Verführung und so weiter. Diese Probleme bestehen schon lange. Nun hat es eine Dimension erreicht, in der zu viele Frauen es nicht mehr hinnehmen.

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