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Interviews

„Der wichtigste Motor der Filmkultur“ - Gespräch mit einer Festivalforscherin

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Diese Woche hat in Cannes das wichtigste Filmfestival der Welt begonnen. Während an der Croisette die Filme, über die in der kommenden Zeit gesprochen werden wird, dem Fachpublikum präsentiert werden, haben wir uns die Zeit genommen, der Filmfestival-Forscherin Tanja C. Krainhöfer per Mail einige Frage zum Zustand und der Zukunft der Filmfestivals zu stellen.

Meinungen
Palais des Festivals in Cannes
Palais des Festivals in Cannes

Seit rund 20 Jahren gibt es einen regelrechten Boom an Filmfestivals – und das betrifft nicht nur die etablierten Player, sondern auch jede Menge Neugründungen, die aus dem Boden geschossen sind und die sich überwiegend erfolgreich am Markt behaupten. Woher kommt dieses neue Interesse an Filmkultur – zumal diese sich ja nicht unbedingt im Alltag der Programmkinos zeigt? Und ist es überhaupt ein gestiegenes Interesse oder steckt vielleicht etwas anderes dahinter?

Der anhaltend wachsende Filmfestivalmarkt im In- wie im Ausland ist nicht allein eine Folge der erhöhten Nachfrage nach Filmkultur. Oft wird eine Nachfrage auch erst durch die Initiierung eines Festivals geweckt. Ausgehend von dem Startpunkt für den ersten großen Wachstumsschub Anfang der 1980er Jahre zeigt sich, dass sich Filmfestivals in Deutschland in diesen wie den Folgejahren zunehmend als sehr wirkungsvolles und gleichzeitig kostengünstiges Instrument behaupten, um unterschiedliche politische Aufgaben zu beantworten. So bedingt zunächst ein neues kulturpolitisches Verständnis gestützt auf Breitenwirkung neben der parallel wachsenden Programmkinolandschaft und einem steigenden Interesse an künstlerisch wie inhaltlich anspruchsvollen Filmwerken eine sukzessive Ausbreitung der deutschen Filmfestivallandschaft. 

In den 1990er Jahren unterstützen Filmfestivals hingegen vor dem Hintergrund der Liberalisierung des Film- und Fernsehmarkts die Bundesländer bei den gezielten Profilierungsbestrebungen einzelner Medienstandorte. Andernorts setzen wirtschaftspolitische Interesse wie die Standortförderung, der aufkommende Kulturtourismus etc. konkrete Impulse. Außerdem finden zu dieser Zeit immer mehr unterschiedliche Gruppen aus den LGBTQ-Communities wie der Diaspora in Filmfestivals wertvolle Orte für Begegnung und Austausch. 

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Ab der Jahrtausendwende werden mittels Filmfestivals verstärkt Gegenposition zur Vormachtstellung des US-amerikanischen Mainstream-Kinos gesetzt, Independent Cinema, Gerne-Festivals und der Kurzfilm rücken in den Mittelpunkt. Zeitgleich entstehen zahlreiche Filmfestivals als Antwort auf das anhaltenden Kinosterben in Ost und West. Auch wenn es hierzu bisher noch keine umfänglichen Untersuchungen gibt, scheint der massive Rückgang an Kinostandorten von 1071 im Jahr 2000 auf 899 im Jahr 2017 – also ein Verschwinden von 171 Orte, an denen es mindestens ein Kino gab – mit dem enormen Anstieg auf 399 Filmfestivals deutschlandweit Ende 2017 zu korrelieren. Die Digitalisierung und der damit einhergehenden Produktionsboom selbst in infrastrukturell rückständigen Ländern sowie die deutlich erleichterten Distributionsbedingungen bilden schließlich die Voraussetzungen für einen weiteren enormen Aufschwung dessen Ende derzeit noch nicht absehbar ist. 

Doch ungeachtet dieser technischen Möglichkeiten, sind es ebenso zahlreiche gesellschaftliche Trends wie der Individualisierung und der damit verbundenen Fragmentierung der Publikumsinteressen oder aber dem Streben nach Mehrwerten über den eigentlichen Kulturkonsum hinaus, die den Erfolg von Filmfestivals ebenso befördern. Darüber hinaus schätzt das Publikum den Zugang zu Filmen abseits des regulären Kinos ebenso wie die gebotene Orientierungshilfe durch ein ausgewählt kuratiertes Festivalprogramm, anstatt sich in der Flut von 2.391 verschiedenen Kinofilmen im vergangenen Jahr (FFA) oder auch nur den 641 Erstaufführungen (im Jahr 2018, SPIO) selbst zurechtfinden zu müssen. 

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Podcast: Wollmilchcast Bonusfolge - Berlinale 2019

 

Filmfestivals haben primär die Aufgabe, Filme einem Publikum zugänglich zu machen und einen Diskurs über die Filme in Gang zu setzen. Darüber hinaus erfüllen Filmfestivals heute aber auch Aufgaben, die weit über den ursprünglichen (originären) Zweck hinausgehen. Welche sind das?

Diese Frage zu beantworten ist weitgehend davon abhängig, welche Brille man aufhat. Der Film stellt das attraktivste und zugänglichste Kulturgut selbst in einer multiethnischen Gesellschaft wie der deutschen dar und ermöglicht damit auch Bevölkerungsgruppen, die sich nicht für Literatur, Theater oder Tanz interessieren, die kulturelle Partizipation. Selbstredend können Filmfestivals folglich in großem Maße zur Überwindung kultureller Barrieren und damit zur Förderung von Verständnis und Toleranz beitragen. Gleichzeitig schaffen sie auch Foren für soziale und politische Debatten, die sich um Religion, Klasse, Sexualität und Identitäten drehen. So gelingt es, Gemeinschaften auszubauen, Zugehörigkeitsgefühle zu schaffen und auch eine kollektive europäische Identität zu befördern und damit wesentlich zu einem sozialen Zusammenhalt beizutragen. Vor einigen Tagen wurde ich auf dem DOK FEST München gemeinsam mit 900 Zuschauern bei der Premiere der Dokumentation Another Reality von Noël Dernesch, Olli Waldhauer eingeladen, für knapp zwei Stunden in eine mir sehr ferne Parallelgesellschaft einzutauchen, mich zu wundern, zu stauen, zu verstehen, nachzuempfinden und gemeinsam mit knapp 1000 Menschen immer wieder zu lachen. Solche Erlebnisse sind es, die Brücken bauen.

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Darüber hinaus erzielen Filmfestivals noch in vielen zahlreichen Kontexten enorme Effekte: Sie steigern die Attraktivität des Kulturangebots am Ort, ermöglichen eine größere Vielfalt auch mit Blick auf eine wachsende Zuwanderungsgesellschaft und tragen zu einer Belebung der lokalen Kultur auch in anderen Sparten bei. Gleichzeitig sind Filmfestivals von ebenso entscheidendem wirtschaftlichem Nutzen: Sie erzeugen Umwegrentabilitäten, wie wertvolle Beschäftigungseffekte, setzen Impulse in der Kultur- und Kreativwirtschaft und wirken imagefördernd für den Standort. Dies sind wesentliche Aspekt bspw. auch für den wirtschaftlich schwachen Standort Berlin, die Regierung-, Universitäts- und Kulturhochburg, aber ohne relevante Industrie – „arm, aber sexy“ wie der ehemalige regierende Oberbürgermeister Wowereit gerne sagte.

Mit dem Boom und einem immer dichter werdenden Markt an Filmfestivals gibt es auch immer mehr Ausdifferenzierungen, zum Beispiel nach Ländern und Regionen, Genres (Fantasy Film Fest etc.), Gattungen (Dokumentar-, Animationsfilm etc.) und Themen. So verständlich der Wunsch nach Abgrenzung auch ist, fragmentiert dadurch nicht auch die Filmlandschaft?

Aus meiner Perspektive bedient diese Diversität vor allem auch eine Vielfalt an neuen Ansätzen, unbekannten Perspektiven und unkonventionellen Erzählformen, also kinematographische Novitäten und Überraschungen, die uns das reguläre Kino so nur noch selten bietet. Außerdem bedarf es einer Spezialisierung, um Entwicklungen und Trends in einem geopolitischen Kontext, einer Gattung, Genre-Variationen differenziert abbildbar zu machen. Dies setzt oftmals beachtliche Spezialkenntnisse, lang gepflegte Netzwerke und einen dezidierten Überblick über ein spezielles Filmgebiet seitens der jeweiligen Kuratoren oder künstlerischen Leiter voraus. Nur so wird es erst möglich, neue Strömungen, spannende Innovationen, herausragende Talente zu entdecken, zu präsentieren und damit auch die Entwicklung der Kinokultur als Ganzes voranzubringen. Dies umso mehr, da gerade Special-Interest-Filmfestivals auch als Schatztruhe für Film-Perlen der Programme anderer Filmfestivals dienen.

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Den Wunsch nach Abgrenzung in dem wachsenden Wettbewerb unter Filmfestivals halte ich nur für problematisch im Hinblick auf die Premieren-Kultur mancher Filmfestivals. Denn wenn sich das Programm eines Filmfestivals nicht mehr an der Qualität seines Programms bemisst, sondern an der Anzahl an Welt-, Europa-, Deutschland-, Bundesland- und Orts-Premieren, mag das für die Presse eine willkommene Zwischenüberschrift sein. Der Zuschauer vertraut jedoch darauf, dass er das beste oder bedeutendste eines Jahrgangs, einer Nation, einer Gattung zu sehen bekommt. Wenn diese Versprechung zugunsten der Jagd um Premieren unterwandert wird, wird das Fest im Festival verraten und verkauft.

Welche Rolle in Sachen Ausdifferenzierung und Alleinstellungsmerkmal spielen eigentlich noch Debüts, die mittlerweile bei sehr vielen Festivals im Fokus stehen? Woher kommt dieses „Besessenheit“ von Debüts? Und ist es überhaupt noch der richtige Weg, auf Erstlingsfilme zu setzen? Oder bedürfen nicht andere Filme viel eher der Unterstützung durch Festivals?

Seit vielen Jahren werden Debüt untrennbar mit Attributen wie „neu“, „unangepasst“, „abseitig“ und „spannend“ assoziiert. Dies hat sicherlich seine Berechtigung, zumal auch in Deutschland die Förderungen von Erstlingswerken weniger die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten des Produkts als vielmehr das Talent in den Blick nehmen und den Nachwuchsregisseuren somit eine große künstlerische Freiheit zugestehen. Gleichzeitig gilt es als eine besondere Qualität eines Festivals, Talente zu entdecken und deren Werke erstmals dem Publikum wie der Branche zu präsentieren. Da nur den wenigsten dieser Filme auch eine reguläre Kinoauswertung gelingt, sehe ich es auch als die Aufgabe der Filmfestivals, dem Publikum Zugang zu den Machern von morgen und ihren filmischen Positionen zu ermöglichen. 

Darüber hinaus denke ich, dass es neben anderer Faktoren und Mehrwerten gerade diese Filme sind, die die Lebenswirklichkeit des jungen Publikums abbilden und diese somit auch mehr auf Filmfestivals als ins reguläre Kino locken.

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Dennoch birgt eine Fokussierung auf Newcomer einerseits und arrivierte Meister andererseits insbesondere bei den international bedeutsamen Filmfestivals oftmals den bedauernswerten Umstand, dass Filmemacher mit ihrem dritten oder vierten Film außerhalb des Radars liegen. Ein Phänomen, das wir auch bei unserer Diversitätsstudie Geschichten und Filme kennen [keine] Grenzen zum Programm der Berlinale über knapp vier Dekaden entdeckt haben. Durch diese Konzentration wird das aktuelle Filmschaffen nur sehr partiell abgebildet und auch Entwicklungen von persönlichen Handschriften und Positionen werden entsprechend nur noch über Hommagen und Werkschauen präsentiert.

Stichwort Netflix: Mit den Streamingdiensten sind neue Player ins Rampenlicht gerückt, die die Filmfestivals gerne nutzen wollen, um auf sich aufmerksam zu machen: Cannes sperrt sich, andere Festivals zieren sich weniger, sondern nehmen die Produktionen und Netflix und Co gerne in ihr Programm. Was ist der richtige Weg, um mit solchen Produktionen umzugehen?

Ungeachtet der Tatsache, dass es für Amazon, Netflix und Co nur von begrenzter wirtschaftlicher Relevanz ist, ob sie auf dem Parkett der Aufmerksamkeit auf Filmfestivals mittanzen dürfen oder nicht, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Auszeichnungen für eine Reihe der sogenannten Originals, dass diese eine erhöhte Aufmerksamkeit sehr wohl verdienen. Ich persönlich bin der Meinung, dass dieses tradierte Festhalten an den klassischen Auswertungsstufen und somit auch der Ausschluss herausragender Filmwerke von Filmfestivals, die außerhalb des Kinomarkts entstanden sind, die Filmwirtschaft um wesentliche künstlerische Einflüsse und Innovationen beraubt und wirtschaftlich betrachtet insbesondere die Kinowirtschaft mittelfristig schwächt.

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Zudem erweisen sich die neuen Player sehr wohl auch als Unterstützer des hiesigen Kinomarkts. Ich spreche jetzt nicht über die Beauftragung oder auch Bindung von Talenten im Hinblick auf die Eigenproduktionen, sondern vielmehr über die enge Zusammenarbeit beim Lizenzeinkauf, wie es kürzlich auch Anaïs Lebrun, die Direktorin des internationalen Programms von MUBI, auf einem Podium der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen betonte. Dass dabei auch Produktionen junger und unbekannter Regisseure Berücksichtigung finden, zeigen ebenso Projekte wie das ehemalige Amazon Festival Stars Programm, im Rahmen dessen 2017 allen Produktionen u.a. der Berlinale Sektion Perspektive Deutsches Kino der Ankauf angeboten wurde. 

Während die Major Studios eigene VoD-Angebote aufbauen, zahlreiche Filmfestivals bereits mit eigenen oder kooperierenden VoD-Plattformen experimentieren und andere Auswertungsstufen sehr wohl daran interessiert sind, mit den neuen Playern zusammenzuarbeiten, sperrt sich ein Teil des europäischen Kinomarkts gerade selbst von diesen Marktentwicklungen aus. Keiner weiß heute, wohin sich dieser disruptive Wandel in der Filmindustrie langfristig bewegt. Doch wie heißt es Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Das Kino wird auch weiterhin das Premiumprodukt des Filmvertriebs bleiben und eine zentrale Bedeutung für eine erfolgreiche Auswertung eines Filmwerks besitzen. Jedoch wenn man sich die wachsenden Verluste der Kinos an (jungen) Zielgruppen ansieht, scheint der Nutzen eines Schulterschlusses mit Amazon, Netflix und Co – auch vor dem Hintergrund das diese zwischenzeitlich auch selbst ins Kinogeschäft einsteigen – eindeutig erfolgsversprechender. 

 

- Ende Teil 1 - 

(Der zweite Teil des Interviews, das unser Herausgeber Joachim Kurz geführt hat, erscheint in einer Woche — pünktlich zum Ende des Filmfestivals in Cannes)

 

Zur Person

Tanja C. Krainhöfer ist Diplom-Medienökonomin, Strategieberaterin und Wissenschaftlerin im Bereich angewandter Forschung mit dem Fokus auf Filmfestivals. Sie ist Gründerin der Forschungsinitiative Filmfestival-Studien.de

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