zurück zur Übersicht
Interviews

Junge filmische Positionen außerhalb der Komfortzone - Interview mit Jenni Zylka

Ein Beitrag von Tanja C. Krainhöfer

Meinungen
Bild des Teams Perspektive Deutsches Kino der Berlinale 2023
Die Filmteams der Perspektive Deutsches Kino mit der neuen Leiterin Jenni Zylka (5. von rechts)

Die Sektion Perspektive Deutsches Kino unter der neuen Leitung Jenni Zylka — Ein Gespräch

„Überall ist der Wunsch vernehmbar, neu anzufangen“ betont Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter der Berlinale in seinem Grußwort. Dass dieser Neuanfang längst stattfindet, beweisen die neuen Stimmen deutscher Filmemacher:innen der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Sie konfrontieren mit ihren Geschichten, Erzählweisen und Ästhetiken. Sie erschaffen Kinoerlebnisse, die sich nicht verlieren, jedoch dem Kinopublikum abseits von Filmfestivals zumeist verborgen bleiben. Das zu ändern, hat sich Jenni Zylka, die neue Leitung der Berlinale-Sektion für die Filmemacher:innen von morgen vorgenommen. Welche Strategien sie hierfür verfolgt und Konzepte sie bereits in ihrer ersten Ausgabe umsetzt, schildert sie in einem Gespräch mit Tanja C. Krainhöfer. 

 

(Tanja C. Krainhöfer) Sie bewegen sich in unterschiedlichen Funktionen auf zahlreichen Parketts: Als Journalistin im Bereich Film, Medien und Musik, als Autorin eigener Romane und Kurzgeschichten, als Kuratorin und Moderatorin auf verschiedensten Filmfestivals. Wie verstehen Sie sich selbst? 

(Jenni Zylka) Ich bin Kulturjournalistin, mit Schwerpunkt Film und Musik. Und die Projekte sind zwar sehr mannigfaltig, aber eigentlich kommen sie immer alle darauf zurück, was eine gute Geschichte ist, wie sie einen berührt. Und dazu kommt auch immer mein Interesse an der Analyse, also die Frage, warum mich etwas berührt. Das ist es was mich leitet. Wenn ich einen Film anschaue, dann verknalle ich mich in etwas, nicht notwendigerweise in die Menschen, vielleicht auch in den Schnitt oder die Kamera. Und dann frage ich mich warum ist das so? was ist das, was daran so überzeugend ist? Und das macht mir total Spaß, darüber nachzudenken oder Kriterien zu entwickeln, warum das gefällt und das nicht. Das ist dann auch sehr subjektiv, ich weiß. Aber so ist es im Feuilleton. So passt alles ein bisschen zusammen. Und ich habe das Gefühl, dass ich genau da bin, wo ich ganz gerne bin und sein möchte. 

 

Seit diesem Jahr haben Sie die Leitung der Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino übernommen. Sie waren zuvor seit 2006 Mitglied der Spielfilmvorauswahl der Sektion Panorama. Sie arbeiten zudem für das Filmfest Emden-Norderney, für das Lichter Filmfest Frankfurt International, das Filmfest Dresden und Filmfest Tatort Eifel. Müssen die anderen Festivals jetzt auf Sie verzichten?

Nein, ich habe ja keinen Ganzjahresvertrag bei der Berlinale. Und ich sehe mich auch immer noch als Kulturjournalistin. Und die Festivals, für die ich ansonsten regelmäßig arbeite, fallen glücklicherweise in die Zeit außerhalb der Berlinale. Ich kann auch nicht aufhören zu schreiben über Film oder über Film zu sprechen. Über die Filme der Berlinale werde ich nun natürlich aus Compliance-Gründen nicht mehr schreiben oder im Radio sprechen, aber über andere. Ich war in diesem Jahr auch eine der neuen internationalen Golden Globe-Voter:innen. Das war total gut, nicht als Gegengewicht aber als Bandbreitenerweiterung zu den deutschen Filmen, habe ich auch die Hollywood-Produktionen gesehen. Natürlich habe ich auch viele Tätigkeiten stark reduziert, vor allem in den letzten Monaten habe ich mich ausschließlich auf die Berlinale konzentriert. Aber ein paar Sachen mache ich regelmäßig weiter, und das mache ich auch gerne und ich hab‘ viel Energie. Glücklicherweise ist mein Hobby auch mein Beruf.

 

Wie muss man sich Ihre letzten Monate im Vorfeld der Berlinale vorstellen? 

In der Sichtungsphase habe ich fast nur gesichtet, viel von zuhause, weil ich dort auch eine Leinwand habe und eine ganz gute Sichtungssituation. Da kann ich mich gut konzentrieren. Ansonsten gibt es auch ein richtiges Kino in der Berlinale, das wir vor allem für Sichtungen im Team nutzen. Dann waren Anträge zu schreiben, Entscheidungen zu treffen oder Sichtungsgespräche mit meinem Beratergremium zu führen. Mein Gremium umfasst drei Personen, die meine Vorauswahl sichteten und Feedback geben. Denn in diesem Jahr hatte ich mich entschlossen, die Vorsichtung aller Filme alleine zu machen, weil ich mir erst einmal einen Überblick verschaffen wollte. Es sind rund 220 Filme, die jährlich für die Perspektive eingereicht werden. Das war relativ schnell zu schaffen. Für die Sektion Panorama habe ich in der Zeit zwischen September, Oktober bis Dezember viel mehr gesichtet, das heißt zwischen 600 bis 800 Filme. Dann hatte ich meine Vorauswahl und nach dem Feedback meines Gremiums habe ich die endgültige Auswahl getroffen. Was nicht einfach war, weil ich nur 10 Slots zu vergeben habe. Nach der Auswahl kam das Programmieren, die Einladungen, die Materialwünsche, dann ging es um die Fragen wo und wann laufen die Filme? was machen wir noch zusätzlich? welche Gespräche planen wir noch für das Format Reden über Film? 

Darf ich fragen, wie sich Ihr Team zusammensetzt, wie divers es ist? 

Es sind ja verschiedene Kriterien die hier eine Rolle spielen. Andere Hintergründe helfen mir immer. Mein Sichtungsgremium besteht aus drei Personen. Eine davon ist maximal weit von meinem eigenen Hintergrund entfernt. Diese Person ist also nicht weiß, alt, weiblich und cis hetero wie ich, und auch nicht christlich aufgewachsen. Er ist Filmwissenschaftler, ich habe mit ihm schon zuvor gesichtet und schätze ihn für seinen tollen Blick auf Filme. Ein anderer ist Regisseur und Produzent und kennt auch das Programm sehr gut, weil er früher schon für die Perspektive Deutsches Kino gesichtet hat. Das fand ich gut, jemanden dabei zu haben, der einen Überblick über frühere Perspektive-Titel hat. Und eine Sichterin mit asiatischen Wurzeln hatte ich angesprochen, weil sie das Asian Film Festival ins Leben gerufen hat, bei den neuen Medienmacherinnen engagiert ist und zudem über koreanischen Film promoviert hat und wirklich einen sehr fundierten Input beiträgt. Also das ist schon sehr divers: zwei Frauen, bzw. zwei die sich als Frauen verstehen und zwei, die sich als Männer verstehen, dazu unterschiedliche ethnische Hintergründe und Alter. 

 

Und wenn man sich das Programm ansieht, unterschiedliche Gattungen, unterschiedliche Lauflänge, unterschiedliche Ästhetiken, unterschiedliche Formen des Geschichtenerzählens. Trotz alledem ist es ein Programm, das dem deutschen Nachwuchs eine Bühne bieten soll. Wenn man andere Filmfestivals für den Nachwuchs betrachtet, beispielsweise das Filmfest Max Ophüls Preis, aber auch die Internationalen Hofer Filmtage oder die Sektion Neues Deutsches Kino beim Filmfest München, wo verortet sich dann die Perspektive

Ich habe quasi per Vertrag in eine Machtposition eingeheiratet, die ich mir nicht selbst erarbeitet habe — das Festival war schon da, und es ist ein A-Festival. Deswegen möchte man auch gerne hier laufen, was ich gut verstehen kann. Meine Aufgabe ist es nun, deutschen Filmen die Bühne zu geben, um international gesehen zu werden und auch im Ausland loslaufen zu können. Es gibt ja keinen Grund, warum das nicht so sein sollte. Bekanntlich sind viele deutsche Filme großartig und das wissen auch viele, aber viele wissen es auch nicht. Das Filmfest Max Ophüls zeigt zum Beispiel ebenfalls wunderbare Filme, die neue künstlerische Leitung hätte ich gerne für mein Sichtungsteam gehabt. Und ich weiß, dass die Branche natürlich auch immer auf Saarbrücken und auf Hof schaut, die Perspektive profitiert zudem von der großen Anzahl an Branchenbesuchern auf der Berlinale.

Inhaltlich ist es mir wichtig, dass die Perspektive-Filme alle eine Relevanz haben, ich möchte nichts zeigen, was nicht irgendeine Art von gesellschaftspolitischer Ebene beinhaltet. Und das haben sie alle. Ich möchte dazu Geschichten vorstellen, die universal funktionieren, nicht nur eine kleine, nur von den Beteiligten verständliche Nische erzählen oder nur an einem bestimmten Ort funktionieren, sondern eine globale Botschaft haben. Der Film Vergiss Meyn nicht ist zum Beispiel irre aktuell, weil er das Thema Aktivismus verhandelt, das wir gerade jeden Tag erleben durch Klima-Kleber und durch alle möglichen Aktionen. Und es geht um Fragen, die ich mir auch jeden Tag stelle, wie weit muss ich gehen? muss man seinen eigenen Körper in die Waagschale legen? Genauso ist es mit der Aussage des Films Sieben Winter in Teheran. Was ich machen kann, ist diese Filme möglichst groß zu zeigen, die Berichterstattung auch ins Fernsehen zu bringen, damit auch das öffentliche Bewusstsein, die Aufmerksamkeit generieren, damit das auch die Politik erreicht. Es muss klar sein, dass uns das alle angeht, nicht nur Personen mit iranischen Wurzeln oder Ex-Iraner:innen. Oder junge Leute, die sagen, ach, das ist ja meine Zukunft ohne saubere Luft. Nein, uns alle als Gesellschaft sollte das unter den Nägeln brennen. Und deshalb ist solch ein großes Festival der richtige Ort, um viele zu erreichen. Und ich hoffe, dass sich Junge und Alte angesprochen fühlen von den Themen und den Erzählweisen und dass sie sich in den Filmen wiederfinden. 

Missing media item.
Trailer zu Elaha (2023)

Sie sagen, Sie würden die Perspektive gerne größer machen, in jeglicher Hinsicht. Wie stellen Sie sich das vor? 

Steter Tropfen ist da, glaube ich, gefragt. Die Berlinale musste wie alle wegen Krieg und Krise einiges reduzieren und Einsparungsmaßnahmen treffen. Alles ist super teuer geworden, manche Kinos machen zu, und einiges mehr. Ich würde die Sektion aber eigentlich dennoch gerne erweitern. Ich habe schon ein wenig erweitert, wir haben nun zehn Filme mit drei mittellangen und noch zwei Freundschaftsfilme, und vier Perspektive-Match-Filme – eine neue Idee. Damit habe ich 16 Filme im Programm, noch zwei oder vier weitere Filme wären top. Und wenn ich von größer spreche, meine ich auch die Relevanz, dass die Filme mehr gesehen werden, daran arbeite ich: Dass der deutsche Film im Ausland präsenter wird. 

Was Filmfestivals und die Presse betrifft, habe ich sowohl die internationalen Journalist:innen als auch die Programmer:innen von anderen Festivals persönlich angeschrieben und sie über das Programm insgesamt oder — je nachdem — über einzelne Filme informiert. Geschrieben habe ich auch den Festivals, die new voices präsentieren wie San Sebastian oder Cannes, darauf gab es viele Rückmeldungen, viele Termine, das hat sehr gut geklappt. Außerdem organisieren wir für die Filmemach:innen ein Get Together mit den internationalen Festivals. Und einige der Filme haben nun auch bereits weitere Einladungen von Filmfestivals. Was Kinoverleihe im Ausland angeht, das kann ich weniger beeinflussen, aber die meisten Perspektive-Filme haben einen Verleih und einen World Sales. 

Wenn ich von größer und wichtiger spreche, meine ich natürlich auch die lokale Berichterstattung zu den Perspektive-Filmen, damit nicht immer nur alles um den Wettbewerb kreist. Es gibt verschiedene Sektionen in der Berlinale. Man kann bestimmt darüber streiten, ob das zu viele Sektionen sind oder nicht. Dass es meine gibt, freut mich jedenfalls sehr. Aber warum guckt man nicht einfach nach den Filmen, nicht nach den Sektionen? Deswegen war ich so froh über Sieben Winter in Teheran im heute journal des ZDF, weil ansonsten die Kultur in den Nachrichtensendungen oft gerade einmal die Eröffnungs- oder Wettbewerbsfilme berücksichtigen.

Wenn wir von Erweiterungen sprechen, muss auch das neue Format Perspektive Match, eine ergänzende Filmreihe mit moderierten Gesprächen, erwähnt werden. Wo liegt hier der Fokus?

Ja, diese neue Reihe hatte meine Vorgängerin Linda Söffker schon angedacht, konnte sie aber wegen der Pandemie nicht umsetzten. Bei diesem Format, eine Kooperation mit den Berlinale Talents und der deutschen Filmakademie, legen wir das Highlight auf die Gewerke. Ich habe bei der Sichtung der Perspektive-Filme immer mitgedacht, welches Gewerk besonders beeindruckend ist. Die jeweiligen Nachwuchstalente habe ich dann eingeladen, um sie mit alten Hasen und Häsinnen aus der Branche, genauer gesagt mit Mitgliedern der Filmakademie der gleichen Gewerke, zu einem künstlerischen Austausch zusammenzubringen.  So trifft beispielsweise Nachwuchsschaupielerin Bayan Layla (Elaha) auf Schauspielerin Jenny Schily zu einem von mir moderierten Gespräch, nachdem wir mit den Talents zuvor im HAU einen Film mit Jenny Schily gesehen haben. Da geht es dann um Fragen wie was muss eine Schauspielerin können? wie haben Sie das gemacht? oder wie kann man sich eine wichtige Rolle erarbeiten? Weitere Matches gibt es zu den Gewerken Ton mit Daria Somesan (Geranien) und Sounddesigner Frank Kruse, zu Komposition mit Ole Wiedekamm (Ash Wednesday)  und dem Komponisten Ali N. Askin, und Montage mit Nachwuchseditorin Evelyn Rack (Ararat) mit dem Editoren Hansjörg Weißbrich. Es ist eine Form von Nachwuchsförderung, die den Talenten die Möglichkeit für ein Coaching eröffnen soll, so dass sie Fragen stellen können, zu Themen, die sie immer schon mal wissen wollten. Und zudem ist die Idee, dass die Gewerke und die Kreativen gewürdigt werden und auch einen breiteren Einblick geben, in die einzelnen kreativen Leistungen. Ich bin ja wirklich ein großer Fan von Filmen, weil Film ein kollektives Kunstwerk ist und einfach mal eben 13 Gewerke kreativ zusammenarbeiten und sich alle der einen Geschichte beugen. 

Trailer zu Geranien (2023)

Vor dem Hintergrund, dass in Europa rund 2000 Produktionen pro Jahr entstehen, von denen nur ein Bruchteil ins Kino kommt, welche Aufgabe hat ein Filmfestival wie die Berlinale und eine Sektion wie die Perspektive?

Wir müssen für die Filme Aufmerksamkeit generieren, wir müssen das Filmschaffen ausstellen, wir müssen die Leute neugierig machen. Es haben natürlich noch viel mehr Filme diese Aufmerksamkeit verdient, als die Filme auf der Berlinale. Das machen zum Teil ja auch andere Festivals. Abgesehen davon, geht es auch darum, die Leute prinzipiell wieder ins Kino zu holen, zurück oder überhaupt. Deshalb gibt es auch das Kiezkino, damit auch in den einzelnen Berliner Stadtteilen die Berlinale Aufmerksamkeit auf die Filme und das Kino erzeugen kann. Außerdem gibt schon seit Jahren eine Kooperation mit Potsdam, dort werden alle Perspektive-Filme unter Anwesenheit der Filmemacher nach der Berlinale nochmals vorgeführt. Und dann gibt es das immer wieder, dass man Filme aus der eigenen Sektion auch auf anderen Festivals vorstellen kann. Grundsätzlich wäre ohnehin die Idee sinnvoll, dass man junge Leute mit jungen Filmschaffenden mehr zusammenbringt. Ich hätte nichts dagegen, hierfür etwas zu entwickeln. Ich weiß, dass viele Filmfestival-Programer eigene Kurationen oder Best off-Programme aus ihren Sektionen auf anderen Festivals präsentieren und sich so für eine weitere Sichtbarkeit und Verbreitung der Filme einsetzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

(Redaktionelle Anmerkung:  Die im Text angekündigte Kooperation Spotlight Perspektive Deutsches Kino mit dem Filmmuseum Potsdam findet vom 01. bis zum 05.03.20223 von jeweils 18.00 bis 22.00 statt. Das Programm und alle weiteren Informationen dazu finden sich hier)

Meinungen