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Filmgeschichte(n)

101 fotokopierte Dalmatiner

Ein Beitrag von Christian Neffe

Vor 60 Jahren feierte Disneys „101 Dalmatiner“ Premiere. Und der sah irgendwie anders aus, als alles, was bisher im Hause Disney erschienen war. Grund war ein neues technisches Verfahren, das die Disney Animations Studios zunächst rettete und später beinahe ruinierte: die Xerografie.

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101 Dalmatiner
101 Dalmatiner

Es gab diesen Moment um das Jahr 1960, da hätte sich Disney — der Konzern wie auch sein Gründer Walt — beinahe vom Animationsfilm verabschiedet. Das letzte große Projekt Dornröschen (1959) war ein ambitionierter Film, gemacht für 70mm-Film, gezeichnet auf Vorlagen, die teils die Größe von Bettlaken hatten, entsprechend kostenintensiv. Und: ein kommerzieller Flop. Da das TV- und Freizeitparkgeschäft florierte, wurde Walt Disney seitens mehrerer Stellen geraten, sich aus dem Kino-Business zu verabschieden.

Der moderne Märchenonkel entschied sich anders, musste aber irgendwie die Kosten drücken, um die Arbeit des Animationsstudios fortführen zu können. Auftritt Ub Iwerks: Der Trickfilmzeichner und -techniker war bereits in der Frühzeit Disneys als kreativer Kopf maßgeblich an der Produktion diverser Filme beteiligt, verließ das Studio aufgrund von Differenzen für rund zehn Jahre lang, kehrte 1940 zurück und war ab da hauptsächlich in der Forschungsabteilung tätig. Ihm wird die Etablierung der von Lotte Reiniger entwickelten Multiplan-Kamera-Technik zugeschrieben — und auch um 1960 war es Iwerks, der mit einem neuen technischen Verfahren die Disney Animations Studios vorerst rettete und später in neuerliche Bedrängnis brachte: der Xerografie.

Kopieren statt ausmalen

Klingt hochtrabend, bezeichnet aber letztlich ein gebräuchliches Fotokopie-Verfahren, das 1937 von Chester Carlson entwickelt wurde. Die Veränderungen, die diese neue Technik anstieß, waren allerdings dramatisch — und sowohl finanzieller als auch ästhetischer Natur. Für 101 Dalmatiner (1961), das nächste große Projekt des Studios, wurde das Verfahren erstmals in Gänze eingesetzt. Das Resultat: Der Film sah anders aus als alles, was Disney bislang auf die Leinwände gezaubert hatte. Die Zeichnung der Animateur*innen wurden nun direkt auf die Animationsfolien (die sogenannten Cels) fotokopiert, und so entfiel der aufwändige Zwischenschritt, in dem die Entwürfe per Hand aufgetragen und ausgemalt werden mussten.

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Das sparte eine Menge Geld und Zeit — allerdings auf Kosten diverser Arbeitsstellen im Paint-Department des Studios, das die klassischen Zeichentrickfilme von Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) über Bambi (1942) bis hin zu Alice im Wunderland (1951) zu solch farbenfrohem Leben erweckt hatte. 101 Dalmatiner etablierte einen über Jahre hinweg fortgesetzten, anderen Stil: roher, wilder, mit unschärferer Linienführung, weniger clean. Man könnte auch sagen: moderner. Oder, wolle man zynisch sein, liebloser.

„We had a new film with a bold graphic look, a new production design that was totally different from what we had been doing with the European fairy tales. So all of these elements came together. So we said – we’ve got the right story, the right process, and the fact that it fits the film’s production design. It was just perfect.“ — Floyd Norman, Animateur bei Disney

Dieser neuer Look passte einerseits gut zum Setting, war 101 Dalmatiner doch die erste Disney-Produktion, die in der Gegenwart spielte. Vor allem aber stellte es sich beim Design der Tiere als Vorteil heraus: So ließen sich die schwarzen Flecken der titelgebenden Hunde originalgetreu von den drawing boards auf die Cels kopieren, ohne dass weitere Zeichner*innen diese per Hand ausfüllen mussten. Auch kam die Arbeit der Animateur*innen besser zur Geltung: Was sie zu Papier brachten, tauchte so eins zu eins im fertigen Film auf  - inklusive mancher Hilfslinie, die nicht vollständig herausradiert wurde. Doch nicht alle kreativen Köpfe bei Disney waren mit den Spätfolgen dieses technischen Umbruchs zufrieden: 1971 verließ etwa Don Bluth das Unternehmen — und führte später unter anderem bei Feivel, der Mauswanderer (1986), In einem Land vor unserer Zeit (1988) oder Titan A.E. (2000) Regie.

Das „Bronze-Zeitalter“

Der Erfolg jedoch gab Ub Iwerks zumindest vorläufig recht: 101 Dalmatiner schaffte es 1961 auf Platz acht des US-Boxoffice und belegt aktuell Platz 15 in der Allzeit-Tabelle der finanziell erfolgreichsten Animationsfilme. Ob es nun am modernen Setting, an den süßen Hundewelpen, am neuen Look oder an einer Kombination aus all dem lag, sei dahingestellt.

Die Xerografie jedenfalls prägte Disneys Stil über knapp 30 Jahre hinweg, wurde (insbesondere im Hinblick auf den Farbeinsatz) sukzessive verbessert, fand in Das Dschungelbuch (1967), Bernhard und Bianca (1977), Robin Hood (1973) oder Oliver & Co. (1988) Anwendung. Und läutete das — so heißt es in Fankreisen — umstrittene „Bronze Age“ der Animation Studios ein, in dem es beinahe zum Teilverkauf des Konzern kam. Bis dann Anfang der 90er digitale Tricktechnik die Vorherrschaft übernahmen, die — nochmal Fankreise — „Disney-Renaissance“ einleitete und etwa den Kassenschlager Der König der Löwen (1994) hervorbrachte. Die Zusammenhänge zwischen dem kreativ-künstlerischen Abbau und den wirtschaftlichen Folgen werden in diesem Videoessay von „the Jaunty Professor“ aufgeschlüsselt:

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Das Beispiel der Xerografie und dessen Folgen zeigen nicht nur, wie massiv technische Entscheidungen die letztendliche Ausgestaltung eines (Animations-)Films bestimmen. Sondern auch wie der Disney-Konzern über die vergangenen Jahrzehnte seine Dominanz festigen konnte: durch seine Fähigkeit, sich in Anbetracht kommerzieller Schwierigkeiten neu am Markt zu orientieren und alles, was kein Geld verspricht, über den Haufen zu werfen. Im Guten wie im Schlechten.

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